»Jeder Beeinträchtigung folgt eine Beeinträchtigung der eigenen Rechte«

Petra Smutny vertritt Frauen vor Gericht, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Davor arbeitete sie 20 Jahre als Richterin. Heute ist sie auch als Opfer-Vertreterin für die Wiener Frauen-Häuser und die Möwe tätig. Immer wieder hat sie auch Frauen mit Behinderungen vertreten. Ein Gespräch über Barrieren in unserem Rechts-System und ungleiche Chancen auf Gerechtigkeit.
Petra Smutny sitzt in einem Stuhl. Sie hat blonde Haare und schaut in die Kamera.

Geschrieben von

Lisa Kreutzer hat die Fragen an Frau Smutny gestellt.

Verena Bauer hat die Fotos gemacht.

Frau Smutny, Sie haben rund 500 Frauen vertreten, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren. Hatten alle dieselbe Chance auf Gerechtigkeit?

Nein. Nicht alle haben die gleichen Zugänge zum Recht. Jeder Beeinträchtigung folgt oft eine Beeinträchtigung der eigenen Rechte. Sei es durch Armut oder dadurch, dass man eine Frau ist oder Behinderungen hat.

Den Zugang zum Recht muss man sich oft noch kaufen.

Je mehr Beeinträchtigungen man hat und je schwerer die sind, desto mehr Unterstützung muss man zukaufen, um gleiche Chancen zu haben.

Ein paar Beispiele: Vor einem Verfahren muss man oft viele Unterlagen sortieren. Wenn Menschen aus körperlichen oder geistigen Gründen zu dieser Vor-Arbeit nicht in der Lage sind, muss ich das mit meinem Mitarbeiter*innen machen. Da sind wir oft tagelang blockiert. Das kostet viel Zeit und Geld.

Oder, wenn jemand mit körperlichen Behinderungen nicht so leicht in mein Büro kommen kann, mache ich Hausbesuche. Bei Menschen mit Lernschwierigkeiten dauert die Vor- und Nachbesprechung auch manchmal länger. Und ich vertrete auch Mädchen und junge Frauen, die ohne Unterstützung gar nicht zu Gericht kommen würden. Da organisiere ich, dass sie abgeholt werden, oder hole sie auch selbst ab. Das kostet alles Geld und das wird nicht immer vom Staat übernommen.

Das Foto zeigt die Profilansicht von Petra Smutny. Sie schaut nach links. Sie hat blonde Haare und lächelt leicht.

Was ist sexualisierte Gewalt?

Sexualisierte Gewalt kann vieles sein.

Bei sexualisierter Gewalt tut jemand etwas,
obwohl die andere Person das nicht will.

Sexualisierte Gewalt kann zum Beispiel sein,
wenn einen jemand berührt oder küsst,
obwohl man es nicht mag.

Sexualisierte Gewalt kann auch sein,
dass jemand zu Sex gezwungen wird.

Wenn jemand zu Sex gezwungen wird,
nennt man das Vergewaltigung.

Sexualisierte Gewalt ist verboten.

Man kann eine Straftat bei der Polizei anzeigen.

Das tun aber nur wenige Menschen.

Es ist in vielen Fällen besonders schwierig,

Beweise für sexualisierte Gewalt zu finden.

Oft gibt es niemanden, der es sieht.

Viele Opfer haben Angst oder Scham, darüber zu sprechen.

Oft steht Aussage gegen Aussage.

Sie schätzen, dass rund 10 Prozent der Frauen, die Sie vertreten haben, Behinderungen hatten. Welche Hürden und Barrieren haben Sie beobachten können?

Die größte Hürde ist erstmal, dass ein Vorfall angezeigt wird. Da ist die größte Barriere die Scham. Das ist bei Menschen mit und bei Menschen ohne Behinderungen so. Denn lange war das Verständnis bei sexueller Belästigung: Besser still bleiben, lieber nichts sagen. Die Metoo-Debatte hat einen Kultur-Wandel hervorgerufen. Es ist jetzt nicht mehr die Schande sexuell belästigt zu werden, sondern eine Schande für den Belästiger. Das sage ich in jedem Verfahren.

Und dazu kommt: jede Form der körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung macht es schwerer, sich sein Recht zu verschaffen. Gerechtigkeit zu bekommen. Dazu zählt auch, wenn man Schwierigkeiten hat, sich auszudrücken

Menschen mit Behinderungen sind in Österreich überdurchschnittlich oft von Armut betroffen. Die meisten können Nachteile nicht selbst mit Geld ausgleichen. Welche Unterstützungen gibt es, Barrieren zu überwinden?

Die Prozess-Begleitung hilft zum Beispiel, unterschiedliche Barrieren auszugleichen. Volle Prozess-Begleitung gibt es nur im Straf-Verfahren. Man bekommt dabei kostenlos juristische und psycho-soziale Unterstützung.

Ich als Rechtsanwältin kümmere mich um alles Rechtliche. Und dann gibt es noch eine Person, die sich um die psycho-soziale Unterstützung kümmert. Das Justiz-Ministerium zahlt die Prozess-Begleitung bei Gewalt-Opfern.

In Sozial-Rechts-Verfahren zum Beispiel gibt es das leider nicht. Hier sind aber viele Menschen mit Behinderungen betroffen. Hier wäre aber oft auch mehr Unterstützung notwendig.

PROZESSBEGLEITUNG

In Österreich gibt es einen Unterschied zwischen

sozial-rechtlichen und straf-rechtlichen Verfahren.

Bei Sozial-rechtlichen Verfahren

geht es zum Beispiel um Pflege oder Arbeits-Unfähigkeit.

In sozial-rechtlichen Verfahren geht es darum,

Unterstützung zu bekommen.

Zum Beispiel Geld oder medizinische Hilfe.

In straf-rechtlichen Verfahren

geht es zum Beispiel um Diebstahl oder Körper-Verletzung.

Hier entscheidet das Gericht über Schuld und Strafe.

Prozessbegleitung gibt es in straf-rechtlichen Verfahren, wenn:

– man Körper-Verletzungen erlebt hat

– ein Familienmitglied getötet wurde

– man bedroht, verfolgt oder beraubt wurde.

Die Begleiter*innen unterstützen bei:

verstehen, was passiert, Dokumente ausfüllen, Ängste überwinden, zu Polizei und Gericht begleiten.

Die Begleitung ist kostenlos.

Wie komme ich zur Prozess- Begleitung?

Die Prozess-Begleitung kann man eigentlich sehr formlos über Opferschutz-Einrichtungen erhalten. Aber nicht alle Menschen mit Beeinträchtigungen wissen, dass es die Prozess-Begleitung gibt. Ich sehe Personen, die oft massive Gewalt erlebt haben und ohne Prozess-Begleitung einen Strafprozess bewältigen müssen. Diese Menschen tun mir immer wahnsinnig leid. Grundsätzlich müssen sich Gewalt-Opfer in Österreich um die Kosten für Anwält*innen, die sie im Straf-Verfahren vertreten, keine Sorgen machen. Aber das wissen nicht alle.

Petra Smutny sitz an einem Tisch. Sie schreibt in den Unterlagen. Sie trägt blonde Haare und blickt auf ihre Arbeitsfläche.

In Österreich sind rund 700 Tausend Menschen auf leichte Sprache angewiesen. Gibt es in einem Prozess Hilfe für diese Menschen?

Oft übernehmen Opfervertreter*innen die Übersetzung. Beispielsweise, wenn ein*e Richter*in fragt: Wurdest du verletzt? Das verstehen viele Menschen nicht, die nicht so gut Deutsch sprechen oder Lernschwierigkeiten haben. Viele verstehen darunter etwas, das blutet. Ein blauer Fleck oder ein großer Schmerz, das gilt für viele nicht als Verletzung. Das muss genau erklärt werden. Da ist es auch meine Aufgabe, das den Betroffenen schon davor zu erklären.

Hängt es also davon ab, wie gut die jeweiligen Rechtsanwält*innen und Prozess-Begleiter*innen erklären? Gibt es keine offiziellen Übersetzungen in Leichte Sprache?

Eine offizielle Übersetzung in Leichte Sprache gibt es meines Wissens nicht. Aber viele Richter*innen habe jahrzehntelange Erfahrung und sehen, wenn jemand nicht mitkommt. Die Zeit reicht aber oft nicht, um immer darauf zu reagieren. Ohne Unterstützung von jemandem, der darauf aufpasst, kann es passieren, dass sie ihre Rechte nicht bekommen.

Übersetzungen in Leichte Sprache

In Österreich sind rund 700 Tausend Menschen auf leichte und einfache Sprache angewiesen um alles verstehen zu können.

Wir haben beim Justiz-Ministerium nachgefragt:

Gibt es Übersetzungen in leichte Sprache?

Das Ministerium sagte: Nein.

Übersetzungen gibt es nur für andere Sprachen

und für Menschen, die nicht hören oder sprechen können.

Wurden Sie in Ihrer Ausbildung speziell auf Barriere-Freiheit geschult?

Während meiner Ausbildungs-Zeit gab es das jedenfalls nicht.

Wie ernst werden Ihrer Erfahrung nach die Aussagen von Menschen mit Lern-Schwierigkeiten genommen?

Auch bei Personen mit Lernschwierigkeiten sind viele Erinnerungen da, nur die sind manchmal nicht geordnet. Ich kann sie ganz selten fragen: Was war zuerst? Was war dann? Es ist dann meine Aufgabe, das zu ordnen.

Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, eine Person, die Opfer geworden ist, noch mehr unter Druck zu setzen. Ich sage nicht: “Du musst mir bessere Beweise liefern.” Ich versuche zu unterstützen, damit wir die Beweise, die da sind, nutzen können. Ich sage nie zu einer Zeugin oder zu einem Opfer: “Sie müssen sich besonders gut erinnern.”

Denn ich will keine Verurteilung, wenn sie dem Opfer am Ende schadet. Operation gelungen. Patient tot. Das möchte ich nicht. Dann lieber ein Freispruch, weil wir die Richter*innen nicht überzeugen konnten, dass das tatsächlich stattgefunden hat.

Petra Smutny sitzt in einem Stuhl. Sie stütz das Gesicht mit der linken Hand. Sie hat blonde Haare und schaut in die Kamera.

Was denken Sie? Wir ergeht es Menschen mit schweren Lernschwierigkeiten, wenn sie sexualisierte Gewalt vor Gericht bringen?

Bei Menschen mit schweren Lernschwierigkeiten kann ein Gutachten erstellt werden. Das soll feststellen, ob sie aussage-tüchtig sind. Wenn jemand Fantasie und Wirklichkeit nicht unterscheiden kann, ist die Aussage nicht verwertbar.

Das Gericht kann darauf keine Verurteilung stützen, wenn es keine anderen Beweise gibt. Diese Aussage der betroffenen Person ist sehr wichtig. Aber sie muss nicht das einzige Beweis-Mittel sein. Bei sexualisierter Gewalt ist es sehr wichtig, vorhandene Beweise zu sichern. Das sage ich immer, gerade bei spontanen Übergriffen. Nicht duschen gehen, keine Wäsche waschen. Man sollte alles, was da ist, sichern. Das geht verständlicherweise im ersten Schock oft unter.

Die Gutachten in Österreich, ob jemand zum Beispiel arbeitsfähig ist oder nicht, entsprechen nicht der Menschen-Rechts-Konvention. Das ist bekannt. Trotzdem gibt es diese Art von Gutachten immer noch . Wie wird denn sichergestellt, dass die Gutachten gut sind?

Ich verstehe Ihre Skepsis. Im Straf-Verfahren erlebe ich in der Regel, dass die Zeugen zumindest als beschränkt aussagefähig eingestuft werden. In sozial-rechtlichen Verfahren kommt es meiner Meinung nach leider oft zu Gutachten, die den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen nicht entsprechen.

Viele Menschen mit Behinderungen erleben Gewalt in Institutionen, die sich um sie kümmern sollen. Zum Beispiel in Pflege-Heimen. Gibt es einen Unterschied, wenn diese Fälle verhandelt werden?

Ja, das ist ein Erschwerungsgrund. Das heisst, Straftaten gegen Personen die Schutz-bedürftig sind werden strenger bestraft. Tatsächlich erlebe ich selten, dass es im Pflege-Kontext zu Straf-Verfahren kommt. Ich glaube, das liegt auch daran, dass es wenige Anzeigen gibt und auch weniger Beweise da sind.

Woran liegt das?

Wer ist denn bei dieser Person im Heim? Wer kann überhaupt aufzeigen, dass da ein Übergriff stattgefunden hat? In der Regel findet man solche Übergriffe nur durch Verletzungsfolgen oder andere äußerliche Spuren. Im schlimmsten Fall beispielsweise bei einem sexuellen Übergriff im Falle einer Schwangerschaft. Ich glaube, es ist sonst sehr schwer, dass das überhaupt ans Tageslicht kommt.

Was braucht es, damit Menschen mit Behinderungen besser zu ihren Rechten kommen?

Das ist eine gesellschaftspolitische Frage.

In den letzten zehn Jahren hat sich viel ins Positive geändert: Zum Beispiel wurde der Missbrauch von Menschen mit Behinderungen der Vergewaltigung gleichgestellt. Seitdem gilt es jetzt auch als sexualisierte Gewalt, wenn es nicht mit körperlicher Gewalt erzwungen wurde. Aber ich glaube nicht, dass derzeit alles Bestmögliche gemacht wird, um Frauen vor sexualisierter Gewalt zu schützen und dass sie das bestmöglich überwinden. Ich glaube, das liegt zum Teil noch immer an dieser Sonder-Stellung von sexualisierter Gewalt, dass sie noch so moralisch besetzt ist.

Und bei Menschen mit Behinderungen glaube ich , dass wir bei Inklusion einen großen Nachhol-Bedarf haben. Solange Menschen mit Behinderungen nicht selbstverständlich als Teil der Gesellschaft gesehen werden, ist das ein schwerer Weg.

Danke für Ihre Zeit!

Fotos von Verena Bauer

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