Dieses Gespräch ist in Zusammenarbeit mit der Investigativ-Plattform DOSSIER entstanden.
Martin Kocher (ÖVP) ist als Minister für Arbeit und Wirtschaft auch dafür zuständig, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Wir haben ihn mit den Ergebnissen unserer Recherchen konfrontiert.
Artin Madjidi: Im März 2019 wurde ich mit 20 Jahren als arbeitsunfähig eingestuft. Warum werden Menschen wie ich als arbeitsunfähig eingestuft? Und ist das fair?
Martin Kocher: Es war bisher so, dass man mit 15 Jahren mit einer Behinderung sehr häufig als arbeitsunfähig eingestuft wurde. Dann konnte man nicht mehr am Arbeitsmarkt tätig sein. Und dann konnte man auch die Angebote des Arbeits-markt-Service (AMS), was Qualifizierung oder Lehrausbildung angeht, nicht mehr nutzen. Wir wollen das jetzt per Gesetz auf das Alter von 25 Jahren erhöhen. Die Hoffnung ist, dass dann mehr junge Menschen am ersten Arbeitsmarkt einen Job finden und Inklusion besser gelingen kann.
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Madjidi: Werden Menschen wie ich, die schon früh für arbeitsunfähig erklärt wurden, jetzt neu geprüft?
Kocher: Ob es einen Rechtsanspruch geben wird, kann ich noch nicht sagen. Aber es wird sicher eine Möglichkeit geben, denn das sollte grundsätzlich immer möglich sein. Was uns gelingen muss: nicht nur das Gesetz zu ändern, sondern auch die Praxis. Das heißt: Es wird vielleicht Phasen geben, wo man es gesundheitlich nicht so gut schafft zu arbeiten, dann später aber in den Arbeitsmarkt zurückkehren kann. Die Möglichkeit, es zu versuchen, und wenn es nicht klappt, auch einen Platz in einer Werkstätte eines Bundeslandes zu bekommen, die muss es geben.
Georg Eckelsberger: Das AMS wird laut Ihrem Gesetzes-Vorschlag für viele junge Menschen zuständig sein, die bisher als arbeitsunfähig eingestuft worden wären. Der Vorstand des AMS sagt aber in einer internen Stellungnahme, die uns vorliegt, dass »das AMS nicht in der Lage (ist), den Bedürfnissen der ins Auge gefassten Zielgruppe gerecht zu werden«. Haben Sie sich nicht mit dem AMS abgestimmt?
Kocher: Die Idee ist nicht, dass das AMS sämtliche Aufgaben übernimmt, die bisher andere übernommen haben. Das wäre gar nicht möglich. Aber es wird zusätzliche Angebote geben müssen, spezifisch für die Altersgruppe 15 bis 25. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Wir brauchen ein gutes System, wo dann auch geschaut wird, wer welches Angebot braucht. Das heißt aber natürlich auch: Wir brauchen gewisse Ressourcen.

Eckelsberger: Auch wenn das neue Gesetz kommt, bleibt das grundlegende Problem ungelöst. Nach dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung, auf dem die UN-Behindertenrechts-Konvention (UN-BRK) basiert, sollte man Menschen überhaupt nicht für arbeitsunfähig erklären. Man sollte Bedingungen schaffen, unter denen sie arbeiten und teilhaben können.
Kocher: Ich sehe das als einen Weg. Der erste Schritt ist, die Feststellung der Arbeits-Fähigkeit nach hinten zu -schieben. Es gibt das große Ziel, dass der Arbeitsmarkt so aufgestellt wird, dass praktisch alle inkludiert werden können. In Österreich ist das mit den verschiedenen Zuständigkeiten gar nicht so leicht umzusetzen. Und auch mit der jetzigen Form des Arbeitsrechts müssen wir ehrlich sagen: Es ist nicht einfach. Weil Arbeit nicht nur Rechte mit sich bringt, sondern auch Pflichten. Aber das wird der nächste Schritt sein. Wir haben jetzt eine Chance: Auch die Arbeits- und Fachkräfte-Knappheit, die wir erleben, führt dazu, dass ein stärkerer Fokus auf Gruppen liegt, die bisher größere Schwierigkeiten hatten, am Arbeitsmarkt inkludiert zu werden. Weil natürlich alle Interesse daran haben, so viele Menschen wie möglich aktiv am Arbeitsmarkt zu haben.
Eckelsberger: Bisher hat uns in der Recherche noch niemand sagen können, nach welchen Kriterien das AMS entscheidet, wer in die Gesundheits-Straße geschickt wird, um dort die Arbeits-Fähigkeit feststellen zu lassen. Wissen Sie das?
Kocher: Ich weiß das auch nicht ganz genau, um ehrlich zu sein. Ich glaube, dass das auch einer der Gründe ist, warum es im Moment so eine Unzufriedenheit mit dem System gibt. Weil man möglicherweise ein bisschen hin und her geschickt wird. Und deswegen ist es wichtig, das Gesetz auch als Prozess zu sehen, um das System besser zu machen. Dass sich die zuständigen Stellen in den Bundesländern oder auf Ebene der Bezirke zusammentun, um gemeinsam zu entscheiden, was der perfekte Weg für den jeweiligen Betroffenen oder die jeweilige Betroffene ist.
Lisa Kreutzer: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sollte es die Prüfung der Arbeits-Fähigkeit, wie sie in -Österreich praktiziert wird, aus Ihrer Sicht eigentlich überhaupt nicht geben.
Kocher: Idealerweise schaffen wir es, dass es das nie mehr gibt. Irgendwann wird es natürlich Gesundheits-Checks -geben müssen, um festzustellen: Was kann jemand? Wie viel müsste man zuschießen? Wie viel Arbeit ist machbar? Aber die jetzige Form einer absoluten Entscheidung – arbeitsfähig oder nicht -arbeitsfähig – ist aus meiner Sicht etwas, -wovon wir auf Dauer -wegkommen müssen.
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Kreutzer: Mit dem neuen Gesetz wird das medizinische Modell von Behinderungen nun wieder verfestigt. Es werden die vermeintlichen Schwächen der Menschen gesehen und nicht die Barrieren in der Gesellschaft und ganz konkret in diesem Fall: auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Kocher: Es war eine Frage der Abwägung. Machen wir einen Schritt, den ich für richtig und wichtig halte, und bleiben im bestehenden Rahmen? Oder diskutieren wir noch einmal einige Jahre zwischen Bund und Ländern? Ich habe mich dafür entschieden, jetzt Fakten zu -schaffen, um zu zeigen, dass es funktioniert. Wenn ich auch in den nächsten Jahren für den Arbeitsmarkt verantwortlich bin, werden weitere Schritte folgen. Aber es stimmt natürlich. Es ist noch nicht die endgültige Umsetzung der Konvention.
Kreutzer: Vor 15 Jahren trat die UN-BRK in Kraft. Dennoch haben Menschen mit Behinderungen in Österreich heute schlechtere Chancen auf einen Arbeitsplatz als damals. Wie erklären Sie das?
Kocher: Es ist gar nicht so leicht zu erklären. Es hat Phasen mit hoher Arbeitslosigkeit gegeben. Damit war es grundsätzlich schwieriger für Menschen, einen Arbeitsplatz zu finden, unabhängig von Beeinträchtigungen. Deswegen ist jetzt ein Zeitfenster, angesichts der Knappheit an -Personal noch viel mehr zu tun. Ich glaube, wir müssen auf allen Ebenen gemeinsam alle davon überzeugen. Es muss diese positive Erzählung, diese positive Aussicht für Unternehmen viel klarer dargestellt werden. Die Vorteile, die es für ein Unternehmen bringt, Menschen einzustellen, die man auf den ersten Blick ansonsten vielleicht nicht einstellen würde, aus welchem Grund auch immer. Da geht es nicht nur um Menschen mit Beeinträchtigungen. Da geht es um die Inklusion und Diversität am Arbeitsmarkt insgesamt.
Kreutzer: Warum wurde die UN-BRK bis heute nicht umgesetzt? Fehlt es am politischen Willen?
Kocher: Manchmal fehlt es am politischen Willen, -manchmal fehlt es vielleicht auch an der Möglichkeit. Wir haben in Österreich mit der föderalen Struktur in diesem Bereich teilweise Schwierigkeiten. Das betrifft die finanziellen Ressourcen, die personellen Ressourcen und die zuständigen Stellen. Das aufzubrechen ist schwierig. Aber das soll keine Entschuldigung sein. Ich kann nur versuchen zu erklären, warum es so lange gedauert hat. Wenn man zurückblickt, haben wir in den letzten drei Jahren vieles gemacht. Aber es ist nicht genug, keine Frage.
Madjidi: Ich würde jetzt gerne über die Ursachen -sprechen. Warum ist es so schwer für Menschen mit Behinderungen, eine Arbeit zu finden?
Kocher: Ich glaube, weil im Land noch ein gewisser Vorbehalt da ist. Woher der kommt, weiß ich nicht. Das liegt sicher auch daran, dass bei der Ausgleichstaxe das Defizit im Vordergrund steht. Ich zahle eine Strafe dafür, wenn ich nicht genug Leute einstelle. Vielleicht schafft man irgendwann ein System, wo ich einen Vorteil bekomme, wenn ich Menschen einstelle. Damit man als Unternehmen ein besseres Umfeld schafft. Das ganze System ist aus der Zeit gefallen.

Madjidi: Was sagen die Arbeitgeber·innen zu dem Thema?
Kocher: Es gibt eine sehr starke Zweiteilung. Wir haben Unternehmen, die sich viele Gedanken über dieses -Thema machen und die sehr viel tun, die vorbildhaft sind. Aber es gibt auch Unternehmen fast aller Größen, die sich überhaupt keine Gedanken machen. Die Politik und die Medien müssen gemeinsam noch viel stärker das Bewusstsein dafür schaffen, dass wir auf dem Arbeitsmarkt Aufholbedarf haben und besser werden müssen.
Eckelsberger: Soll die Ausgleichstaxe erhöht werden, um Unternehmen dazu zu bringen, Menschen mit Behinderungen einzustellen? Sie ist in Österreich relativ niedrig, im Vergleich zu Deutschland zum Beispiel.
Kocher: Ich würde lieber über ein System diskutieren, das positive Anreize setzt und Unternehmen unterstützt, die Menschen mit einer Beeinträchtigung einstellen. Vielleicht braucht man auch eine Mischung aus beidem. Rein nur über die Höhe zu sprechen finde ich etwas verkürzt. Aber es stimmt natürlich: Wir müssen über die Ausgleichstaxe sprechen.
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Kreutzer: Lassen Sie uns über Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sprechen. Seitdem sich Österreich zur UN-BRK bekennt, seit mittlerweile 15 Jahren, ist klar: Dass Menschen dort nur ein Taschengeld verdienen und getrennt von Menschen ohne Behinderungen arbeiten, ist ein Missstand. Trotzdem haben Sie die -Reform erst kürzlich wieder als langfristiges Ziel bezeichnet. Wie erklären Sie das den 28.000 Menschen, die aktuell für ein Taschengeld arbeiten?
Kocher: Idealerweise, in nicht allzu ferner Zukunft, sollten solche Einrichtungen nicht mehr existieren müssen. Wir sollten nach Alternativen suchen, um alle in regulären Betrieben zu beschäftigen. Es gibt schon ähnliche Einrichtungen wie Werkstätten – mit den gleichen Tätigkeiten, aber anderen rechtlichen Grundlagen. Wenn das jetzt schon so ist, dann muss es doch gehen, alle Menschen in Betrieben zu organisieren und eben nicht mehr die Werkstätten zu haben. Ich würde mir wünschen, dass wir das spätestens bis 2030 schaffen. Ganz ehrlich.
Kreutzer: »Lohn statt Taschengeld« steht auch im aktuellen Regierungs-Programm. Was hindert Sie an der sofortigen Umsetzung?
Kocher: Es ist natürlich ein Thema, das historisch gewachsen ist, das Finanzströme mit sich bringt. Und natürlich ist es auch eine Frage der Zuständigkeit. Man braucht dafür eine Verfassungs-Änderung und eine Reihe von anderen Voraussetzungen. Aber ich bin optimistisch, dass -einiges gelingen kann. Ob es einen großen Wurf gibt, werden wir sehen.
Eckelsberger: Gesetzlich wäre das laut Expert·innen über eine 15a-Vereinbarung möglich, mit der man -Länder und Bund koordinieren kann. Das gibt es ja in vielen anderen Bereichen auch, etwa im Asylwesen.
Kocher: Ich weiß nicht aus dem Stegreif, ob es eine Verfassungs-Änderung braucht. Ich bin kein Jurist, aber es bräuchte wohl eine Verfassungs-Bestimmung. Es würde die gesamten Finanzströme zwischen Bund und -Ländern in diesem Bereich verändern. Das Sozialwesen ist Ländersache. Das Sozialwesen hilft Menschen, die Unterstützung brauchen, wie Älteren, Kindern und Menschen mit Behinderungen. Die Frage ist: Bezieht sich das nur auf diese Gruppe? Gibt es auch andere Gruppen, die davon betroffen wären? Es ist ein umfassendes Thema. Ich versuche, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es nicht so einfach ist.
Madjidi: Die Politik soll ja für uns Bürger·innen arbeiten. Warum geht in Sachen Inklusion alles so langsam voran?
Kocher: Die Politik ist manchmal einfach langsam. So ist es. Wir bemühen uns, ich bemühe mich sehr. Es ist manchmal ein zähes Ringen. Man braucht Mehrheiten, man muss überzeugen, und man braucht auch die Ressourcen dafür. Es macht keinen Sinn, Gesetze zu beschließen, für die es keine Ressourcen gibt. Ich weiß, dass es manchmal enttäuschend ist. Das ist mir völlig klar. Aber wir haben jetzt in den letzten Jahren, glaube ich, mehr zusammengebracht als andere in vielen Jahren davor.
- November, 2023
Interview Von
Georg Eckelsberger (DOSSIER)
und von
Lisa Kreutzer (andererseits)
und von
Artin Madjidi (andererseits)
Fotos von
Ramona Arzberger
Illustrationen
Gerhard Haderer
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