Illusion Inklusion

Wenn Arbeitgeber·innen Menschen mit Behinderungen anstellen, wird das oft als »gelungene Inklusion« bezeichnet. Aber gelingt sie wirklich?
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Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit der Investigativ-Plattform DOSSIER entstanden.

Wie geht es Menschen mit Behinderungen in ihrem Job? Um das herauszufinden, haben DOSSIER und andererseits eine Umfrage gemacht. 50 Menschen mit Behinderungen haben mitgemacht und ihre Erfahrungen geteilt. 

Die Antworten zeigen: In einigen Fällen funktioniert die Inklusion richtig gut. Aber immer wieder gibt es Barrieren. Menschen mit Behinderungen stoßen im Beruf auf Berührungs-Ängste ihrer ­Kolleg·innen. Mehrere Personen haben angegeben, dass sie sich für ihre Bedürfnisse rechtfertigen müssen. Häufig fehle es an Unterstützung und Verständnis. Manche erzählten, dass sie deshalb ihre Behinderung in der Arbeit ­verheimlichen – aus Angst vor den Reaktionen.

Einige Probleme wurden in den Antworten besonders oft genannt. Auch von Montserrat, Maria und Luca. Was sie erlebt haben, ­erzählen sie hier.

»Sie hat einfach für mich gesprochen«

Montserrat, 32 Jahre

Bei der Jobsuche und auch in meinem jetzigen Job musste ich immer wieder verletzende Erfahrungen machen. Ich lebe seit drei Jahren in Österreich. Einen Job zu ­finden war schwierig. 

Auf einem Jobportal für Menschen mit Behinderungen habe ich dann eine Stellenanzeige für einen Job in einer Hotel-Wäscherei gesehen. Ich habe mich ­beworben und durfte sogar in die zweite Runde zum Probetag. Die Frau, die mich eingeschult hat, hat mir den Job nicht ­zugetraut. Das habe ich sofort gespürt. Wir gingen dann zur ­Personal-Abteilung. Die Frau erzählte dort, dass ich mir mit meinem Rollstuhl bei der Arbeit schwertun würde. Sie hat einfach für mich gesprochen. Die Personal-­Abteilung des Hotels verstand, was los war: Die Frau wollte nicht mit mir arbeiten. Man bot mir daraufhin eine andere Stelle in dem Hotel an. Ich nahm diese an und arbeite jetzt dort. Diese Erfahrung belastet mich aber immer noch. 

Mein jetziger Job ist okay. Meine Chefin ist wirklich freundlich. Aber es gibt immer wieder komische Situationen. Ich spreche noch kein perfektes Deutsch, verstehe aber alles. Vor kurzem wurde ich befördert. Da habe ich meine Kolleg·innen abschätzig sagen hören: »Wieso sie?« Die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen werden immer angezweifelt. In Österreich fehlt an vielen Stellen das Bewusstsein von Menschen ohne Behinderungen für Menschen mit Behinderungen. Viele meiner Kolleg·innen lachen, wenn jemand mit Rollstuhl ein Zimmer ohne Teppichboden im Hotel buchen will. Sie verstehen nicht, wie schwierig das ist. Oder sie vergessen, bei Betriebs-Ausflügen auf Barrierefreiheit zu achten. Wenn ich keine Möglichkeit habe, auf eine Toilette zu gehen, will ich nicht mitfahren. 

Dieses fehlende Bewusstsein sehe ich aber nicht nur am Arbeitsplatz, sondern überall. Immer wieder kann ich einen Lift bei der U-Bahn nicht nutzen, weil so viele andere Menschen einsteigen. Sie achten nicht darauf, dass ich auf ihn angewiesen bin.

Klar, eine Lösung könnte sein, etwas zu sagen. Aber ich habe nicht immer die Energie dazu. Ich muss auch Miete zahlen, Essen zubereiten, das Haus putzen, Beziehungen führen und, und, und. Menschen mit Behinderungen haben einen Alltag wie alle anderen – nicht nur ihre Behinderung. Ich wünsche mir einfach mehr Empathie!

Hintergrund: Unverständnis und unsensibler Umgang

Wie Montserrat geht es vielen Menschen mit Behinderungen. Das zeigt eine Sora-Umfrage im Auftrag der Arbeiter-Kammer Wien aus dem Jahr 2019. Darin geht es um Erfahrungen mit Diskriminierung: Ein Drittel der Menschen mit einer körperlichen Behinderung gab an, sich bei der Arbeit benachteiligt zu fühlen. Auch in -unserer Umfrage berichteten mehrere Menschen, dass sie sich am Arbeitsplatz wegen ihrer Behinderung häufig rechtfertigen und erklären müssen. 

Die Mobbing-Expertin Manuela Palatka von der Arbeits-Gemeinschaft unabhängiger Arbeitnehmer kennt ähnliche Geschichten. Sie findet: Sobald Menschen mit Behinderungen in ein Team kommen, braucht es Supervision. Also eine Beratung im Beruf, die Zusammenarbeit verbessern soll. »Menschen mit Behinderungen sind häufiger von Mobbing betroffen. Das Team braucht Supervision, bei der die Person mit Behinderungen ihre Bedürfnisse deutlich kommunizieren kann. -Möglichst ohne Druck und ohne Beisein der Führungskraft«, sagt Palatka.

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»Es gab Aussagen wie ›Sie kosten uns ja ohnehin schon mehr als die anderen‹ « 

Luca (Name geändert)

Letztes Jahr wurde in meiner Arbeit allen ein Bonus ausbezahlt. Nur mir nicht. Weil ich zu diesem Zeitpunkt – aufgrund meiner Behinderung – über eine Leihfirma angestellt war. Diese Leihfirma hat mich an meine jetzige Arbeitsstelle vermittelt. Das ist ein Unternehmen, das Menschen mit bestimmten Behinderungen bei der Jobsuche unterstützt. Dass ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt über die Leihfirma angestellt wurde, war so etwas wie eine Sicherheit für mich. Damit ich bei einer möglichen Kündigung des Arbeitgebers nicht in prekäre Verhältnisse rutsche. Ich wurde erst einen Monat später fix übernommen. 

Ich musste viele mühsame Gespräche führen und habe sehr verstörende Rückmeldungen bekommen. Aus­sagen wie »Seien Sie doch froh, dass Sie überhaupt etwas bekommen« und »Sie kosten uns ja ohnehin schon mehr als die ­anderen« sind gefallen. Erst nach mehreren Monaten gab die Geschäftsführung nach und bezahlte mir den Bonus nachträglich aus. Seitdem werde ich vom Geschäftsführer gemieden. Was auch bedeutet, dass ich meinen Job nicht gut machen kann, weil es meine Aufgabe ist, ihn zu beraten.

Um gut arbeiten zu können, brauche ich Stabilität und Unterstützung. Die gibt es bei meiner aktuellen Arbeit leider nicht. Zu Beginn meiner Anstellung gab es extra eine Schulung mit der gesamten Abteilung. Darin ging es allgemein um die Aufklärung zur Behinderung und um meine Bedürfnisse. Aber: Ich hatte das Gefühl, wenige Wochen später war alles wieder vergessen. Meine Behinderung ist unsichtbar. Mitarbeitende sagen zu mir »Für mich bist du nicht behindert« oder »Ich glaube, du bist da zu streng mit dir. Du kannst ja eh alles«. Ich weiß, all das ist gut gemeint. Aber bei meinen Behinderungen geht es nicht darum, ob ich etwas kann. Die eigentliche Frage sollte sein: »Wie geht es dir damit? Und wie viel Energie kostet dich das?« Behinderung braucht Geduld und Verständnis. Beides fehlt oft.

Hintergrund: Schutz vor Benachteiligung

Die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsplatz ist in Österreich verboten. Geregelt ist das im Behinderten-Einstellungs-Gesetz. Wegen einer Behinderung darf man nicht weniger Geld verdienen oder gekündigt werden. Auch durch die Ausstattung am Arbeitsplatz darf kein Nachteil entstehen. 

Im Gesetz ist außerdem der erhöhte Kündigungs-Schutz für begünstigte behinderte Menschen festgelegt. Dazu gibt es viele falsche Annahmen. Manche Arbeitgeber·innen denken: Durch den Schutz kann eine Person gar nicht mehr gekündigt werden. Doch das stimmt nicht: Die Kündigung muss nur von einer Behörde überprüft werden. Sie schaut sich an, warum Personen gekündigt werden sollen. Das soll Diskriminierung verhindern. Der Kündigungs-Schutz gilt außerdem bei neuen Einstellungen erst nach vier Jahren. 

»Und da wusste ich: Das wird nichts, egal was ich sage«

Maria, 40 Jahre

Einmal sagte ein Kollege zu mir, dass ihn mein Aussehen am Anfang ein bisschen erschreckte. Aber er werde sich daran gewöhnen. Da hatte ich noch mein ­richtiges Auge. Ich habe das Sturge-Weber-Syndrom. Wegen der Erkrankung hatte ich Tumore im rechten Auge. Es wurde 2017 rausoperiert. Jetzt trage ich eine Prothese. Außerdem habe ich das typische Feuermal im Gesicht. Mit 19 Jahren wurde mir ein Behinderungs-Grad von 90 Prozent bescheinigt. 

Die Jobauswahl ist durch mein Aussehen etwas limitierter. Manche Unternehmen haben Probleme damit. Bei manchen Bewerbungs-Gesprächen merkte ich beim Reingehen: »Der schaut mich komisch an.« Und da wusste ich: Das wird nichts. Egal was ich sage. Im Bewerbungs-Prozess für meinen ersten Job sagten ­Verantwortliche angeblich hinter meinem Rücken: »So wie die ausschaut, findet sie nirgends anders einen Job.« Sie meinten daher, sie könnten mir weniger zahlen. Aus der Erfahrung habe ich gelernt: Wenn ich heute einen neuen Job annehme, achte ich auf faire Bezahlung. Ich will gleich viel verdienen wie frühere Studien-Kolleg·innen ohne Behinderungen.  

Im Job selbst warte ich ein bisschen, bis ich über meine Erkrankung spreche. Zuerst will ich mich beweisen. Ich möchte nach der Leistung oder Persönlichkeit bewertet werden. Nicht nach der Behinderung. Doch es gibt Leute, die mich auch noch im fünften Meeting komisch anschauen. Dann merke ich ihre Oberflächlichkeit. 

Aber solche Fälle waren nicht häufig. Sobald sich die Leute an mich gewöhnten, gab es aus meiner Sicht keinen Unterschied mehr. Ich habe wegen meines Aussehens schon das Gefühl, dass ich mich beweisen muss. Deswegen lernte ich sehr viel und schloss mein Studium mit einem 1,5-Schnitt ab. Und gerade im ersten Job nach dem Studium war ich dem Burnout nahe. Das heißt, die Arbeit hat mich krank gemacht. Inzwischen bin ich Senior-Controllerin. Das passt gut zu dem, was ich wirklich gut kann. 

 Hintergrund: Nicht überall gleich vertreten

Dass Maria im Bereich Controlling (Rechnungswesen) arbeitet, ist laut der Studie »Chancengleichheit für Frauen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt« aus dem Jahr 2020 eher die Ausnahme. Die Studie wurde vom Arbeitsmarkt-Service in Auftrag gegeben und vom Institut für Sozialforschung gemacht. Ein Ergebnis: Begünstigte behinderte Frauen und Männer arbeiten besonders häufig in der Interessen-Vertretung, im öffentlichen und sozialen Bereich. Laut Studie sind begünstigte behinderte Frauen aber beispielsweise seltener in den Bereichen Finanzen, Versicherungen, Recht, -Steuern, Unternehmens–Beratung und Forschung tätig.

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»Frei sein «

Unser Autor Sebastian musste hunderte Bewerbungen schreiben, um den passenden Job zu finden. Ein Text über Freiheit, die nicht selbstverständlich ist.

„Im August 2010 war ich beim Arbeitsmarkt–Service und habe in drei -Monaten rund 350 Bewerbungen geschrieben. Ich wollte eine verlängerte Lehre zum Bürokaufmann machen. -Verlängert bedeutet, dass man vier Jahre Zeit hat statt drei. Nur auf fünf Bewerbungen habe ich -eine Antwort -bekommen. Eine einzige hat auch eine Lehre ermöglicht: bei der Allianz–Versicherung. Nach fünf Schnuppertagen waren sie von mir so begeistert, dass sie mich behalten wollten.

Mittlerweile bin ich knapp 13 Jahre dort. Ich telefoniere in der Vermittlung und indiziere. Das bedeutet, ich sammle die E-Mails und Post und teile sie anderen -Abteilungen oder Menschen zu. Das ganze Reden ist teilweise mühsam und anstrengend, aber auf der anderen Seite auch -lustig und abwechslungsreich. Und vor allem: sehr lehrreich. Ich kann mich besser ausdrücken. Ich habe gelernt, besser zuzuhören und zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn ein Kunde oder eine Kundin mir ein Stichwort sagt, dann weiß ich direkt, was zu tun ist. Mir gibt es ein gutes Gefühl, dass ich ein wichtiger Bestandteil der Allianz bin, ein sehr wichtiger.

Für Menschen mit Behinderungen ist es etwas ganz Besonderes, ein fixer Bestandteil der Arbeitswelt zu sein – wahrscheinlich besonderer als für -Menschen ohne Behinderungen. Denn das gibt einem ein Gefühl von Freiheit und Selbstständigkeit im Leben, das für Menschen mit Behinderungen leider oft nicht selbstverständlich ist. Auch ich war davor in einer Welt gefangen, wo das nicht so war. Wenn man eine Arbeit hat, dann hat man einen geregelten Alltag.

Ohne Arbeit weiß man nicht, was man mit dem Leben anfangen soll. Man fällt in eine Art Trance, aus der man nicht mehr leicht rauskommt. So habe ich mich gefühlt. Wahrscheinlich fühlt sich jeder Mensch ohne Arbeit so, aber für Menschen mit -Behinderungen ist es noch schwerer, eine Arbeit zu finden. Man braucht etwas Geregeltes, auch um neue soziale -Kontakte zu knüpfen. Dabei hat mir die Arbeit geholfen.

In einer eigenen Wohnung zu leben bedeutet für mich Freiheit. Meine erste Wohnung war auch der erste Schritt zur Selbstständigkeit. Viele andere Menschen mit -Behinderungen leben in Wohnheimen. Mir ist die eigene Wohnung wichtig, weil ich Ruhe und Abstand brauche, um aus dem -Alltag ein wenig rauszukommen und abzuschalten.

Zwei Jahre vor meinem Auszug habe ich meiner Mama gesagt, dass ich ausziehen möchte. Ich habe mich schon wohlgefühlt daheim, aber ich wusste, dass ich ausziehen und selbstständiger werden muss. Ich wollte ein Reich für mich haben und vor allem auch mein Leben selbst verwalten. Das ist Freiheit.“

Geschrieben Von

Ramona Arzberger

und von

Theresa-Marie Stütz

Redaktion

Lisa Kreutzer

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