Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen

Ein Prozess-Bericht von Nikolai Prodöhl und Sophia Wetzke
Das Foto zeigt den Eingang des Justizzentrum Potsdam. Ein zweistöckiges Gebäude. Zu dem Eingang führt eine Stiege hinauf.

Eine Betreuerin soll Menschen mit Behinderungen in einem Wohn-Heim in Deutschland geschlagen und beleidigt haben. Ende Mai steht sie deshalb vor Gericht.

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Es ist der 27. Mai. Im Amts-Gericht in Potsdam in Deutschland tritt gegen Mittag die wichtigste Zeugin vor den Richter. Die 22-jährige Frau spricht bei ihrer Aussage ruhig und bedacht. Sie schildert die Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen, die sie beobachtet hat. 

Sie macht vor, wie die Angeklagte ihre Hand an die Stirn eines behinderten Mannes legte und seinen Kopf weit in seinen Nacken drückte. Wie sie ihm einen Löffel mit Suppe oder Brot so lange stark gegen die Lippen und die Zähne drückte, bis dieser den Mund öffnete. Obwohl er offensichtlich nicht essen wollte, so die Beobachtung der Zeugin. Sie erzählt, dass die Angeklagte mehrere Menschen mit Behinderungen regelmäßig mit Worten wie „Du Drecksau” oder „Du bist eklig” beschimpfte.

Die junge Zeugin beschuldigt eine Mitarbeiterin des Oberlin-Hauses. Eine 56-jährige Frau, die im Jahr 2023 in einer Wohn-Einrichtung für Menschen mit Behinderungen in Potsdam als Betreuerin arbeitete. Sie soll Bewohner*innen geschlagen und geschubst haben und sie zum Essen gezwungen haben. Oder ihnen Essen weggenommen haben, um sie damit zu bestrafen. 

Dafür wurde sie in 8 Fällen angeklagt. Der Vorwurf gegen sie lautet: Misshandlung von Schutz-Befohlenen. Schutz-Befohlene sind manchmal zum Beispiel Kinder und Ältere, oder auch Menschen mit Behinderungen. Sie brauchen in bestimmten Situationen Hilfe und Fürsorge von anderen.

Es ist nicht das erste Mal, dass es im Oberlin-Haus zu Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen gekommen ist. Das Oberlin-Haus ist eine Firma mit mehreren Einrichtungen in Brandenburg und Berlin, in denen Menschen mit Behinderungen leben. In einer dieser Einrichtungen hatte 2021 eine Pflegerin 4 Bewohner*innen ermordet. Die Pflegerin wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Doch es war kein Einzelfall. Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen passiert in Einrichtungen immer wieder. 

Sie sei in diesen Momenten fassungslos gewesen, erzählt die junge Zeugin. Sie habe direkt gespürt, dass das Verhalten der Angeklagten gewalttätig und falsch war. Sie beschreibt, wie die betroffenen Bewohner*innen laut geschrien haben. Wie sie sich wegdrehten oder sich selbst in die Hand bissen.

 Sie sagt, die Betroffenen hätten damit eindeutig gezeigt, dass sie Schmerzen hatten oder nicht mochten, was die Angeklagte mit ihnen gemacht hat. Ihre wesentlich ältere Kollegin, die Angeklagte, habe aber zu ihr gesagt: „Das sieht nur grob aus, das ist nicht grob. Mach du es auch so.“ 

Andere Betreuer*innen in der Einrichtung habe sie als vorsichtig, mitfühlend und fachlich richtig handelnd erlebt, sagt die Zeugin. Aber die Angeklagte habe ihre Macht gegenüber den Bewohner*innen ausgenutzt. Die Klient*innen, also die Bewohner*innen des Hauses, müssten vor ihr geschützt werden.

Auch die Angeklagte wird befragt. Ihr Anwalt sitzt im Gerichts-Saal neben ihr. Der Richter befragt die Frau zu den einzelnen Fällen und wird dabei sehr genau: Neben der Situation mit dem Löffel soll sie zum Beispiel einen taubblinden Mann angeschrien und auf seine nackten Fuß-Sohlen geschlagen haben, als dieser nach dem Baden nicht aus der Wanne kommen wollte. Einer Frau mit Down-Syndrom soll sie auf die Hand geschlagen haben, damit sie die Finger aus dem Mund nimmt.

Die Angeklagte wirkt erst sehr unsicher und aufgeregt. Ihr Anwalt hilft ihr immer wieder bei ihrer Aussage, weil sie beim Sprechen mehrmals nicht weiß, wie sie ihre Sätze zu Ende bringen soll.

Sie streitet nicht ab, dass es diese Situationen gab. Sie verteidigt sich vor dem Richter aber immer wieder und sagt, das seien keine Schläge gewesen, sondern doch nur „Klapse“ oder ein „Klopfen“. Auch in dem Fall mit dem Löffel sagt sie, es sei kein Zwang gewesen, sondern nur ein „Impuls“, damit der Mann von allein anfängt zu essen. 

Die Angeklagte meint: Für Menschen, die nicht in solchen Einrichtungen arbeiten, würde das vielleicht brutal aussehen, aber in der täglichen Arbeit sei das ganz normal und habe nichts mit Gewalt zu tun. Die Bewohner*innen würden die Betreuer*innen mit ihrem Verhalten oft testen und herausfordern, rechtfertigt sie sich mehrfach. Die Frau sagt immer wieder, dass sie gar nicht wisse, was sie falsch gemacht habe und warum sie angeklagt sei. Sie verstehe die Welt nicht mehr.

Nach den Aussagen gibt es eine Pause, in der sich der Richter, die Schöffen, der Staats-Anwalt und der Anwalt der Angeklagten besprechen. Schöffen sind ehrenamtliche Helfer*innen bei Gericht. Der Staats-Anwalt vertritt als Anwalt den Staat und die Anklage gegen Menschen, denen ein Verbrechen vorgeworfen wird.

Nach der Pause teilt der Richter allen Anwesenden im Saal mit, dass das Gericht auf weitere Zeugen-Aussagen verzichte. Sie finden: Es gibt schon genug Beweise. Eigentlich sollte noch eine weitere Mitarbeiterin des Oberlin-Hauses befragt werden, doch sie wurde nach Hause geschickt. 

Vier Stunden sind an diesem Prozess-Tag insgesamt vergangen, als der Richter das Urteil verliest: Die Angeklagte wird zu 10 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Außerdem soll sie 2000 Euro an einen gemeinnützigen Verein, den Allgemeinen Behinderten-Verband Land Brandenburg, zahlen. 

Das Gericht sagt, die Frau habe Körper-Verletzung und Nötigung begangen. Nötigung bedeutet das Erzwingen einer Handlung durch Drohung oder Gewalt.

Das ist allerdings nicht das, wofür die Betreuerin angeklagt war. Der Vorwurf bei Prozess-Beginn war: Misshandlung von Schutz-Befohlenen. Dafür hätte sie eine höhere Strafe bekommen können. Der Richter begründet seine Entscheidung damit, dass ihre Taten nach Ansicht des Gerichts dafür aber nicht ausgereicht hätten. 

Die verurteilte Betreuerin räumte den ganzen Tag über nicht ein, dass sie etwas falsch gemacht haben könnte oder dass sie ihr Verhalten bereut. Sie sagt nicht, dass sie bedauert, was sie getan hat.

Am Prozess-Tag saßen viele Menschen auf den Zuschauer-Plätzen, darunter mehrere Journalist*innen, aber auch Aktivist*innen vom Bündnis „Ableismus Tötet”. 


Die Aktivist*innen von „Ableismus Tötet” waren enttäuscht vom Prozess und dem Urteil. Sie hätten sich eine höhere Strafe für die Täterin gewünscht. Außerdem sei das Wort „Ableismus“, also die respektlose und ungleiche Behandlung von Menschen mit Behinderungen, in der Verhandlung nicht ein einziges Mal gefallen.

Dieses gesellschaftliche Problem sei aber der wahre Grund für solche Taten. Die Aktivist*innen der Gruppe fanden auch, dass das Oberlin-Haus als Einrichtung genauer untersucht werden sollte, weil dies nach den Morden in 2021 schon der zweite Fall innerhalb weniger Jahre sei, der ans Licht gekommen ist. Besonders ungerecht fanden Vertreter*innen der Gruppe im Gespräch mit andererseits nach dem Prozess-Tag: Offenbar wurde gar nicht erst versucht, die betroffenen Bewohner selbst zu ihren Erlebnissen zu befragen.

Geschrieben Von

Nikolai Prodöhl

und von

Sophia Wetzke

Redaktion

Lisa Kreutzer

Bilder

Sophia Wetzke

Lektorat 

Claudia Burner