Unsere Autorin lebt mit Behinderung. Sie erzählt, wie sie deshalb immer wieder diskriminiert wird und was sie sich im Umgang mit Menschen mit Behinderungen wünscht. 

In meiner Heimatstadt Bad Tölz findet in der Marktstraße mit ihren bunten, historische Häusern zweimal wöchentlich ein Wochenmarkt statt. Es gibt meistens sechs bis acht Stände und es riecht nach Käse und frischem Obst. Ich begleite meine Mutter regelmäßig dorthin, wir kaufen sehr gerne regional ein. Unter anderem steht dort ein Stand, der Wurst- und Fleischwaren verkauft. Der Besitzer kennt meine Mama und mich inzwischen. Wir sind Stammkundinnen und kommen immer wieder.

Seit dem ersten Mal (und jedes Mal wieder) bekomme ich vom Verkäufer, noch bevor Mama irgendetwas sagen oder bestellen kann, eine Frankfurter (Anm. der Redaktion: Wurst)  geschenkt, meistens ohne einen weiteren Kommentar. Eine Wurst beim Metzger geschenkt bekommt man als Kind. Ich glaube nicht, dass viele andere 27-jährige Frauen so behandelt werden. Hat man, so wie ich, eine sichtbare, körperliche Behinderung, erlebt man jeden Tag unterschiedliche Reaktionen darauf. Viele halten mich wegen meines Äußeren und meiner geringen Körpergröße für deutlich jünger. Sie behandeln mich wie ein Kind. So auch der Metzger. Ich wünsche mir ein Verhalten, das auch unabhängig von meiner Behinderung geschieht.

Meine Behinderung gehört zwar zu mir und prägt natürlich meinen Charakter, sie macht mich allerdings nicht komplett als Mensch aus, denn ich bin nicht Möbius.

In erster Linie bin ich nämlich nicht nur ein Mensch mit Behinderung, sondern, wie alle anderen, ein Mensch. Also bin ich auch der Ansicht, ich habe es verdient, wie ein Mensch behandelt zu werden. Warum ich das erzähle? Weil ich damit klar machen will, dass es sowohl beim emotionalen, als auch rationalen Umgang mit einer Behinderung oder Einschränkung keine eindeutige Vorgehensweise gibt. Jede Situation ist neu und anders und man geht mit unterschiedlichen Erwartungen und Vorstellungen hinein. 

Meine Behinderung gehört zwar zu mir und prägt natürlich meinen Charakter, sie macht mich allerdings nicht komplett als Mensch aus, denn ich bin nicht Möbius. Beim Möbius Syndrom handelt es sich um eine sehr seltene, angeborene Behinderung. In Deutschland gibt es laut dem Verein “Moebius Syndrom Deutschland e.V.” rund 200 bekannte Fälle, die unseren Verein bereits kontaktiert haben. In Österreich sind es 11. Hinzu kommt vermutlich eine große Anzahl an unbekannten Fällen. Oftmals ist eine präzise Diagnose aufgrund der Seltenheit und der vielfältigen Ausprägungen schwierig oder sie kann erst im Laufe des Lebens vorgenommen werden. Das Merkmal, das alle Betroffenen teilen, ist eine sogenannte Fazialisparese, eine Gesichtslähmung, die halb- oder beidseitig auftreten kann. Diese wird durch die Lähmung und unvollständige Ausbildung bestimmter Hirnnerven ausgelöst. Das führt dazu, dass das Gesicht wie eine starre Maske aussieht und so gut wie keine oder nur sehr wenig mimische Ausdrucksmöglichkeiten zulässt. Wegen der fehlenden Mimik bilden sich andere Menschen meist sehr schnell eine Meinung über mich, nur aufgrund des ersten Eindrucks. Das macht mich traurig und verletzt mich. Ich bin mehr als meine Behinderung, also wünsche ich mir, dass die Leute das auch so sehen. 

Dementsprechend möchte ich auch einfach als Mensch, als Franziska, gesehen und für meine Eigenschaften geschätzt werden. Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig, die Behinderung nicht zu vergessen, da sie ein Teil von mir ist und ich tagtäglich mit Hürden zu kämpfen habe. Diese Tatsache wird von Außenstehenden oder auch Menschen, die eher meine Eltern und nicht mich persönlich kennen, leicht übersehen, da ich meinen Weg gehe und meine Ziele ehrgeizig verfolge. 

Ich kann diese Gefühle in den Gesichtern der Menschen ablesen, sie aber nicht bei mir.

Ich studiere und kann selbstständig leben. Aber ich muss mich Herausforderungen, die mit meiner Behinderung einhergehen, stellen. Dinge, die man auf den ersten Blick nicht unbedingt sehen kann. Das versuche ich auch ehrlich anzusprechen, ohne jammern zu wollen. Es gilt also, eine Balance zu finden: Menschen mit Behinderung dürfen nicht nur wegen ihrer Einschränkung abgestempelt werden, aber man darf diese und die damit verbundenen Hindernisse auch nicht kleinreden oder ignorieren. Dazu kommt, dass niemand in den anderen oder die andere hineinschauen kann. Also bleibt in manchen Fällen erst einmal nur der äußere Eindruck – vor allem, wenn man sich nicht länger mit jemandem beschäftigen will oder kann. 

Das, was bei Möbius-Betroffenen wohl als erstes auffällt, ist das fehlende Lächeln. Die Mundwinkel zeigen in den meisten Fällen überwiegend nach unten. Das irritiert mein Gegenüber manchmal stark. Wenn mich jemand auf der Straße anlächelt, erwartet die Person, dass ich zurück lächle. Das kann ich aber nicht. 

Ich kann diese Gefühle in den Gesichtern der Menschen ablesen, sie aber nicht bei mir. Vor einiger Zeit kam mir eine ältere Frau entgegen. Sie lächelte mich zuerst freundlich an, aber beim Näherkommen fiel ihr buchstäblich die Kinnlade hinunter. Am Schluss starrte sie mich total entsetzt und irritiert an.

Meine Sprache klingt vor allem zu Beginn verwaschen, denn ich bilde meine Laute und Buchstaben aufgrund fehlender Muskeln anders. Manche Leute verstehen mich deshalb schwerer. Viele nehmen sich nicht die Zeit, mir und anderen Betroffenen zuzuhören, um uns zu verstehen. Ich bekomme oft die Rückmeldung, dass das Verstehen überhaupt kein Problem mehr sei, wenn man sich etwas eingehört hat. Meine Behinderung erfordert es, dass beide Seiten sich aufeinander einlassen und der Beziehung Zeit und Raum lassen. Hinzukommen können verschiedene Begleiterscheinungen wie Klumpfüße, eingeschränkte Feinmotorik, fehlende Gliedmaßen oder eine Schielstellung der Augen. 

Sie schaute smich mit einem derart skeptischen Blick an, zum anderen sagte sie mir ins Gesicht, dass das mit dem Verstehen bei mir ja schwierig werden wird. Und das alles, bevor ich überhaupt den Mund öffnen und ein Wort sagen konnte. Sie wollte mich nur aufgrund des ersten optischen Eindrucks wieder wegschicken.

Eine große Schwierigkeit besteht in meinen Augen darin, dass das Fremd- und Selbstbild oft weit auseinandergehen. Es kann beim gegenseitigen Verstehen helfen, sich in den oder die andere einzufühlen. Möbius ist eine sehr seltene Behinderung, die in der gesellschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung kaum vertreten, bekannt oder überhaupt sichtbar ist. Genau deshalb ist es wichtig, sich auch die Perspektive des Gegenübers vor Augen zu führen und mitzudenken. Ein Schlüssel für mich ist dabei die Kommunikation. Es ist wichtig, offen und ehrlich über Unsicherheiten und Fragen zu sprechen. Ich bin immer für Gespräche bereit. Mir ist es lieber, es fragt jemand nach, als dass ich hinter meinem Rücken Getuschel oder auch Beleidigungen wahrnehme. 

Weil Möbius-Betroffene anders aussehen, werden wir oft schnell abgestempelt und in eine Schublade gesteckt. Viele vermuten etwa, dass ich aufgrund meiner körperlichen Behinderung auch eine intellektuelle Einschränkung habe. Zu Beginn meines Psychologie-Studiums, das ich mittlerweile abgebrochen und meinen Studiengang gewechselt habe, musste ich an verschiedenen psychologischen Experimenten teilnehmen, um sogenannte Versuchspersonenstunden zu sammeln. Bei einem dieser Experimente wurde unter anderem die Ausdrucks- und Sprachfähigkeit getestet. Die Versuchsleiterin signalisierte mir von der ersten Sekunde an, dass sie mir die Aufgaben nicht zutraute. Zum einen schaute sie mich mit einem derart skeptischen Blick an, zum anderen sagte sie mir ins Gesicht, dass das mit dem Verstehen bei mir ja schwierig werden wird. Und das alles, bevor ich überhaupt den Mund öffnen und ein Wort sagen konnte. Sie wollte mich nur aufgrund des ersten optischen Eindrucks wieder wegschicken. Ich habe das aber nicht zugelassen, da ich den Weg nicht umsonst kommen wollte und überzeugt war, dass man es auf einen Versuch ankommen lassen sollte. Also habe ich sie nachdrücklich gebeten, es mich einfach ausprobieren zu lassen. 

So war es auch beim ersten Mal beim Wurstkaufen: Ich wusste überhaupt nicht, wie ich reagieren oder was ich fühlen soll. Ich war unsicher, überrascht und ein Stück weit auch überfordert mit der Situation. Dieses Erlebnis ist bei mir hängen geblieben und gibt mir auch heute noch ab und zu zu denken. Nachdem mir der Metzger die Wurst in die Hand gedrückt hatte, habe ich mich als erstes freundlich bei ihm bedankt. Gleich danach musste ich so anfangen zu lachen, dass ich ein paar Schritte vom Stand wegging, um mich zu beruhigen Das Lachen war die unmittelbare Reaktion, doch ich hätte von meinem Gefühl her auch genauso gut weinen können. Ich weiß, dass er mir eine Freude machen und nett sein wollte, dennoch war ich im ersten Moment einfach verletzt und kam mir, einmal mehr, wie ein dummes Kind vor. 

Schwächen und Unsicherheiten gehören zum eigenen Wachstum wie Fortschritte und positive Erfahrungen.

Viele nehmen sich nicht die Zeit, anderen einen zweiten Blick zu schenken oder Menschen, ob sie nun eine Behinderung haben oder nicht, die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen und ihre Persönlichkeit zu zeigen. Jeder und jede von uns, da nehme ich mich selbst auch nicht aus, hat nach dem ersten, optischen Eindruck ein Bild im Kopf, wie diese bestimmte Person sein könnte. Mit solchen Kategorisierungen strukturieren wir und mindern die Komplexität. Entscheidend ist für mich, was man daraus macht, wie man sich weiter verhält. 

Riskiert man einen zweiten Blick hinter die Fassade oder bleibt es beim ersten, oberflächlichen Eindruck? Denn wenn es beim ersten Blick bleibt, kann jemand wie ich seine Stärken und positiven Seiten nicht immer in der Form zeigen und nach außen tragen. Ich finde es selbst überhaupt nicht schlimm, manchmal auch verschiedene und uneindeutige Empfindungen zu haben. Generell wünsche ich mir, dass andere Menschen nicht nur meine Behinderung sehen und mich nur danach einschätzen und bewerten. Gleichzeitig sollen sie diese aber auch nicht vergessen und ignorieren. Deswegen lohnt sich für mich definitiv ein zweiter Blick und nach Möglichkeit ein offenes Gespräch. Mit der eigenen Einschränkung umzugehen ist ein Lernprozess, in dem vor allen Dingen auch die mentale und emotionale Stabilität eine Rolle spielen. Was mir sehr hilft ist der Gedanke, dass man sich mögliche Schwächen und Unsicherheiten auch zugestehen darf und muss. Sie gehören genauso zum eigenen Wachstum wie Fortschritte und positive Erfahrungen. Die Einzigartigkeit der Menschen ist für mich kein Nachteil, sondern eine Stärke, denn erst sie macht unser Leben bunt und aufregend.

Grafik (c) Moritz Wildberger