Die Lust zu spielen

Die Schauspielerinnen Lucy Wilke und Johanna Kappauf arbeiten an den Münchner Kammerspielen. Ihr Weg in die Kunst war nicht selbstverständlich. Denn deutsche Theater sind immer noch alles andere als inklusiv.

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Ein Freitag-Vormittag Ende September in München. Johanna Kappauf betritt die Bühne. Die 26-Jährige trägt eine Brille, eine beige Bluse und eine schwarze Hose. Schlicht und elegant. Auch das Bühnen-Bild im Probe-Raum ist einfach gehalten. Ein paar Stühle stehen an der Wand, ein paar Stufen führen hoch zu einer Tür aus Holz mit einem riesigen Schlüssel im Schloss. In einer anderen Ecke steht ein Haus aus Holz, das vorne offen ist. Alles steht auf Rollen, sodass die Regisseurin das Bühnen-Bild während der Probe hin- und herschieben kann. 

Johanna Kappauf ist eine mit Preisen ausgezeichnete Schauspielerin. Sie ist seit 2021 im Ensemble der Münchner Kammerspiele. Das heißt: Sie spielt in der festen Gruppe des Theaters und bekommt ein monatliches Gehalt. 

Das ist Johanna Kappauf

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In den Münchner Kammerspielen gibt es seit 2020 ein inklusives Team. Das ist für ein städtisches Theater wie die Kammerspiele eine Besonderheit. Städtisches Theater bedeutet: Das Theater bekommt von der Stadt München Geld. 

Eigentlich müsste es ganz normal sein, dass es an allen deutschen Theater-Häusern inklusive Teams gibt. Weil kulturelle Teilhabe ein Menschen-Recht ist. Das heißt, dass alle Menschen ein Recht auf Zugang zu Kunst und Kultur haben. Und ein Recht darauf, selbst in diesen Berufen zu arbeiten. Als Schauspieler zum Beispiel, als Bühnen-Bildnerin, als Kostüm-Meister oder als Sängerin. Doch Schauspieler*innen wie Kappauf sind eine Ausnahme.

Schauspieler*innen mit Behinderungen sind eine Ausnahme

Das Stück, für das sie an diesem Freitag probt, ist keine leichte Kost. Sie steht für Zeit ohne Gefühle auf der Bühne. Ein Stück der Autorin Lena Gorelik über die Nazi-Zeit.

Kappauf spielt „Die Stimme“, also die Erzählerin. Eine Rolle, die Autorin Gorelik speziell für sie geschrieben hat – nachdem sie Kappauf auf der Bühne gesehen hat. 

Bei der Regie-Besprechung äußert Kappauf Besorgnis: Sie startet ihre Rolle mitten im Publikum. Was, wenn sie bei der Aufführung jemand anquatschen will? „Wir überlegen uns was“, sagt Regisseurin Christine Umpfenbach. 

Dann legt Kappauf los. Mit starker, klarer Stimme spricht sie ihren Text. Die Regie-Assistentin liest die anderen Rollen vor. „Du darfst auch ein bisschen Spaß haben“, sagt die Regisseurin. Den hat Johanna Kappauf. Trotz des ernsten Themas. Am meisten scheint sie die Momente zu genießen, in denen die Regisseurin zu ihr sagt: „Da darfst du ruhig ein bisschen spielen!“ Dann wird die Spiel-Freude sichtbar in ihrem Witz, in ihrer Lust, selbst etwas auszuprobieren.

An die Wände des Holz-Hauses werden Bilder aus der damaligen Zeit geworfen. Eine Golf-Szene zum Beispiel. Die muss Kappauf nachstellen: Sie konzentriert sich, rückt ihre Brille gerade und ihren langen Zopf zurecht. Dann schwingt sie ihren unsichtbaren Schläger und erstarrt in dieser Position, so wie das Bild hinter ihr.

Den Text kann sie bereits auswendig, sie spricht ihn ohne Zögern und ohne Stolpern. „Die Stimme“ passt zu ihr: Wenn Kappauf spielt, verwandelt sich ihre Stimme völlig. Wird ihr Werkzeug, ihr Instrument. „Fantastisch“, findet Regisseurin Umpfenbach.

An den Münchner Kammerspielen arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen manchmal zusammen. Eine Regisseurin mit Trisomie 21 hat schon Regie geführt. Auch Autor*innen mit Behinderungen und anderen Lern-Möglichkeiten gibt es ab und zu. 

An den Münchner Kammerspielen arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen

Es sei wichtig, Mitarbeitenden mit Behinderungen mehr Zeit zu geben. Mehr Luft, mehr Ruhe, mehr Pausen. Das sagt Nele Jahnke, Dramaturgin, Regisseurin und verantwortlich für das inklusive Team der Kammerspiele. Eigentlich bräuchte es pro Spielzeit eine Produktion weniger, damit das für alle gut funktioniert, meint sie. Das werde aber selten so umgesetzt, weil die Kammerspiele als städtisches Theater gewisse Aufgaben haben. Wie eben: Bei den Stücken pro Spielzeit auf eine gewisse Vielfalt zu achten.

Auch zusätzliche Menschen im Team seien wichtig, Menschen wie Filo Krause. Krause unterstützt bei den Kammerspielen Personen mit Assistenz-Bedarf und entwickelt neue Ideen dafür. Aber auch Menschen wie Theater-Pädagog*innen oder zusätzliche Begleiter*innen seien unverzichtbar. All dies, sagt Jahnke, kostet Geld.

Auch wenn es Ziele gibt, die Barriere-Freiheit in den Bundes-Ländern zu verbessern – Budget dafür gibt es in Deutschland eher nicht. Politiker*innen sagen zwar auf andererseits-Nachfrage: Barriere-Freiheit ist uns wichtig. Doch es gibt selten ein extra Budget für Kultur-Einrichtungen, die Menschen mit Behinderungen einstellen, oder Stipendien für Menschen mit Behinderungen, die Kultur machen wollen. In mindestens der Hälfte der deutschen Bundes-Länder gibt es kein spezielles Budget für Theater, die Kultur-Schaffende mit Behinderungen einstellen. 

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Doch ohne solche Gelder können nur wenige Menschen mit Behinderungen in einem Theater arbeiten. Es kostet Geld, Gebäude barrierefrei umzubauen. Es kostet Geld, Rampen und Aufzüge zu bauen. Es kostet Geld, Hebe-Lifter in WCs einzubauen. Es kostet Geld, Menschen bei ihrer Arbeit genug Pausen zu geben. Genug Zeit. Genug Ruhe.

Kulturelle Teilhabe ist ein Menschen-Recht. Deshalb hat andererseits recherchiert. Ein halbes Jahr lang haben wir Daten gesammelt und analysiert. 

Wir wollten von Theatern, Kultur-Ministerien, Schau-Spiel-Schulen und Ticket-Verkaufs-Stellen wissen: Wie barrierefrei ist Kultur in Deutschland?  Wir haben bei mehr als 270 Stellen angefragt. Weniger als ein Viertel wollte uns auf alle Fragen antworten. Was wir trotzdem wissen und welche Widersprüche sichtbar wurden.

 

Nach der Einzel-Probe von Johanna Kappauf beginnt die Team-Probe. Um halb zwölf kommen vier Kollegen dazu. „Guten Morgen“, grüßen sie. Die Team-Probe ist lauter, chaotischer. Es wird diskutiert, manchmal reden alle durcheinander. Im Gespräch mit den Kollegen wirkt Kappauf entspannt. Die ersten Durch-Läufe sind nicht mehr ganz so flüssig. Die meisten können ihren Text noch nicht. Nun stockt auch Kappauf hin und wieder. Ihre Hände wirbeln dabei durch die Luft, die Arbeit wirkt anstrengender.

Dann rollt ein Kollege sie quer über die Bühne, während sie auf einer kleinen Plattform auf einem Stuhl sitzt. „Das ist dein Sisi-Moment, Johanna!“, ruft er ihr zu. Sisi war eine Kaiserin von Österreich. Johanna Kappauf lacht und winkt wie eine Kaiserin. Da ist sie wieder, die Spiel-Freude.

Lucy Wilke, 40 Jahre alt, Schauspielerin

Diese Spiel-Freude kennt auch Lucy Wilke. Sie tanzt auf der Bühne. Sie singt, sie lacht, sie weint. Sie ist nackt auf der Bühne. Sie ist sexy, traurig, verzweifelt. Glücklich, wild. Sie hat keine Angst, sich zu zeigen. Doch dass sie sich zeigen kann, war ein langer Weg. Lucy Wilke nutzt einen Rollstuhl. Als Frau mit Behinderungen Schauspielerin werden zu können, sollte selbstverständlich sein. Aber das ist es nicht. Weil Kultur in Deutschland eben fast nie barrierefrei ist. Nicht für Menschen, die Kultur erleben wollen. Und nicht für Menschen, die Kultur erschaffen wollen.

Lucy Wilke wuchs auf umgeben von Kultur, von Musik, von Schauspiel. Ihr Vater arbeitete im Theater. Ihre Mutter ist Sängerin und blind. Ihre Eltern haben ihr viel Freiheit gegeben und wenig Grenzen gesetzt, sagt Wilke. Das hat ihr geholfen, an sich selbst zu glauben.

Eigentlich wollte sie Regisseurin werden. „Zwei Mal habe ich mich an einer Film-Hochschule beworben und kam zwei Mal in die letzte Runde“, sagt sie. Dabei sei ihr indirekt vermittelt worden: „Es liegt an deiner Behinderung, dass du den Platz nicht bekommst.“ Wilke arbeitete einige Jahre lang als Regie-Assistentin. Als Person also, die bei der Regie unterstützt. „Ich möchte Schauspielerin sein!“, schrieb sie irgendwann in ihr Tage-Buch. Und kämpfte darum, sich diesen Traum zu erfüllen. Ihr gefällt an diesem Beruf: Sich zu verwandeln, sich zu verkleiden. In Rollen zu schlüpfen, ganz anders zu sein als sonst. 

Das ist Lucy Wilke

Vor verschlossenen Türen

Wie Johanna Kappauf arbeitet auch Lucy Wilke bei den Münchner Kammerspielen. Wilke ist ebenfalls festes Ensemble-Mitglied. Das heißt: Wie auch Kappauf spielt sie in der festen Gruppe des Theaters und bekommt ein monatliches Gehalt.  Vorher war sie freie Künstlerin und hat bei vielen verschiedenen Aufführungen mitgearbeitet. „Ich musste viel reisen. Das war für mich sehr beschwerlich“, sagt sie.

Es habe ihr aber auch viel Spaß gemacht, sagt sie. Und es hat sie und ihre Arbeit bekannt gemacht. Ihren ersten großen Erfolg hatte sie 2017 mit einem Stück namens Fucking Disabled (deutsch: „vögelnde Behinderte“), in dem es um sexuelles Begehren geht. Sie tourte mehrere Jahre mit einer Tanz-Aufführung, die vom zärtlichen Erkunden von Körpern handelt. Und gewann damit einen wichtigen Theater-Preis. Ihr nächstes eigenes Projekt soll ein Stück über ihren Kinder-Wunsch werden, erzählt sie.

Doch auch Lucy Wilke kennt es: Vor verschlossenen Türen zu stehen, wörtlich. Gebäude nicht betreten zu können. Ins Schauspiel-Haus der Kammerspiele kommt sie bis heute nur auf Schleich-Wegen. „Es wurden zwar inzwischen ein paar Rampen gebaut, zur Kantine oder zum Werk-Raum“, sagt sie. „Aber das Gebäude ist denkmal-geschützt, man darf es also gar nicht beliebig umbauen. Darum muss ich weiterhin um den Block latschen, um hereinzukommen.“ 

Bitte nur ein bisschen behindert

Und es gibt Hürden, die sich nicht mit einer Rampe überwinden lassen. Wie die Belastungen für Wilkes Körper während acht Stunden Probe. „Die Theater-Hallen sind sehr hoch, dadurch wird es dort sehr kalt“, erklärt Wilke. „Und meine Muskeln arbeiten nicht mehr, wenn mein Körper zu kalt wird.“ Zum Aufwärmen hat sie einen Heiz-Körper am Bühnen-Rand und eine Liege im Ruhe-Raum, weil sie in den Pausen nicht einfach schnell nachhause fahren kann. Oft hat sie am späten Abend noch Physio-Therapie, weil vorher keine Zeit dafür ist.

Für Menschen mit Behinderungen gibt es im Kulturbereich viele Hürden

In dieser Spiel-Zeit wird Wilke wohl ein Jahr lang gar nicht auf der Bühne der Kammerspiele zu sehen sein. „Es gab keine Regisseurin, keinen Regisseur, die mit mir arbeiten wollten“, sagt Wilke. Sie hat dort jetzt nur noch einen Mini-Job, erklärt sie. Das heißt: Sie darf nicht mehr als 556 Euro im Monat verdienen. „Ich habe auch keinen Fahr-Dienst mehr, so dass ich an Team-Sitzungen nicht teilnehmen kann“, sagt sie. „Krankenversichert über die Kammerspiele bin ich auch nicht mehr.“ Das alles wurde ihr erst kurz vor der neuen Spiel-Zeit mitgeteilt. „Mir wurde gesagt: Es liegt nicht an meiner schauspielerischen Leistung. Sondern daran, dass die Arbeits-Weise der Regisseur*innen nicht mit meinen Möglichkeiten vereinbar ist.“

Nele Jahnke, die für das inklusive Team an den Münchner Kammerspielen verantwortlich ist, sagt dazu: „Man muss es auch wollen.“ Damit meint sie: Viele wollen es nicht – mit Schauspieler*innen mit Behinderungen zusammen zu arbeiten. Man muss es wollen und man muss Räume dafür schaffen. Das versuchen die Kammerspiele. Aber selbst dort stoßen Menschen an Grenzen. Denn Jahnke sagt auch: „Ein großer Teil des Kultur-Betriebs ist und bleibt leider ableistisch.“ Ableismus bedeutet, dass Menschen aufgrund ihrer Behinderungen ausgegrenzt und abgewertet werden.

Inklusion sei ein schönes Wort, sagt Lucy Wilke. „Es klingt gut, es wirkt gut. Es gibt Menschen gute Gefühle.” Aber Inklusion dürfe nie zu anstrengend sein. Inklusion dürfe nie zu viel Geld kosten. „Menschen dürfen zwar ein bisschen behindert sein. Aber bitte nicht so sehr, dass es stört.” Dann nämlich sei Inklusion auf einmal doch nicht so wichtig, sagt Wilke: „Finden Menschen ohne Behinderungen.”

Johanna Kappauf und Lucy Wilke sind zwei Frauen, die vieles erreicht haben – gegen viele Widerstände. Die sich Träume erfüllt und Widerstände überwunden haben. Und dennoch weiterhin Widerstände zu spüren bekommen.

Einer ihrer größten Widerstände ist vielleicht, dass viele Menschen denken: Inklusion ist kein so wichtiges Thema. Sie denken: Es gibt doch so viele wichtigere Themen. Und viele Menschen denken auch: Kultur ist kein so wichtiges Thema. Niemand braucht Kultur zum Überleben. Niemand braucht Kultur, um leben zu können. Darum denken viele: Kultur ist ein Luxus. Es ist besser, sich um Inklusion an anderen Orten zu kümmern.

Aber Menschen sehnen sich nach Kultur. Nach gemeinsam erlebter Kultur. Das zeigen Studien, die heraus-fanden, wie gemeinsam erlebte kulturelle Teil-Habe das psychische und gesundheitliche Wohl-Befinden verbessern kann. Auch eine Überblicks-Studie der WHO (Weltgesundheits-Organisation) kam 2019 zu einem ähnlichen Ergebnis. Tanzen, Singen, Malen, aber auch Kultur einfach nur erleben: All dies kann heilsam sein für Seele, Geist und Körper.

Darum sehnen Menschen sich danach, zusammen Konzerte zu besuchen. Sie wollen nicht nur allein zuhause Musik hören. Sie wollen gemeinsam tanzen und klatschen. Sie wollen Filme nicht nur auf dem Sofa schauen. Sie wollen in einer Gruppe mitfiebern, lachen und weinen. Sie wollen sehen, wie Menschen auf der Bühne fremde Welten entstehen lassen. Sie wollen selbst auf der Bühne stehen oder hinter der Bühne arbeiten. Menschen brauchen das. Menschen mit und ohne Behinderungen. Menschen wie Lucy Wilke. Menschen wie Johanna Kappauf.

Geschrieben Von

Ines Schipperges

Recherche von

 Ines Schipperges / Leonie Schüler

Redaktion

Lisa Kreutzer

Fact-Checking

Emil Biller

Fotos

Kammerspiele München