Diese Recherche ist in Zusammenarbeit mit der Investigativ-Plattform DOSSIER entstanden.
Ein Klicken. Der Sitzgurt öffnet sich. Von seinem Rollstuhl lässt sich Philipp Mürling auf die harten Stufen fallen. Er greift mit den Armen nach dem Metall-Geländer. Mühevoll zieht er sich 14 Stufen hinauf. Sein Gesicht ist vor Anstrengung verzerrt. Als ihn seine Kräfte verlassen, rutscht er einige Stufen hinunter. Einen Moment hält er inne, ruht sich kurz auf dem harten Steinboden aus. Er sammelt neue Kräfte – und sein Kampf geht weiter. Vergeblich zieht er sich erneut mehrere Male einige Stufen hinauf. Schließlich gibt er auf. Es dauert nicht lange, bis er Abschürfungen an seinem Körper hat. Doch die nimmt er in Kauf. Denn er will auf Missstände an seiner Universität aufmerksam machen. »Ich habe versucht, wie alle anderen das Uni-Gebäude von vorn über die Prunkstiege zu erreichen – allerdings auf allen vieren. Über 30 Mal bin ich gescheitert.«
Mürling studiert an der Akademie der bildenden Künste. Auf der Stiege vor dem Haupteingang wird sein Körper zu einer Kunst- und Protest-Aktion zugleich. Es gibt zwar einen barrierefreien Eingang, er befindet sich allerdings hinter dem Gebäude und zwischen den Mülltonnen. »Ich finde weder mein Studium noch die verschiedenen Diskussionen oder meine eigene Kunst anstrengend. Ich finde es anstrengend, körperlich überhaupt erst anwesend sein zu können«, sagt Mürling. Sein Kampf steht stellvertretend für jenen von rund 39.000 Student·innen mit Behinderungen, die 2019 in Österreich gezählt wurden. Das heißt: Circa jede·r achte Student·in hat eine Beeinträchtigung, die das Studieren erschwert.
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Neben sichtbaren Barrieren wie der Treppe vor Mürlings Uni gibt es auch unsichtbare Barrieren wie Prüfungszeiten, die nicht für alle Chancengleichheit bedeuten. Davon sind beispielsweise Menschen mit Neurodivergenzen betroffen. Das bedeutet: Ihr Gehirn funktioniert anders als das der meisten Menschen. Etwa bei Autist·innen. Für manche wäre es zum Beispiel gut, bei Prüfungen oder bei der Vorbereitung mehr Zeit zu haben. Oft bekommen diese Student·innen mit Behinderungen aber nicht die Unterstützung, die sie brauchen. Damit verletzt Österreich ihr Menschenrecht auf Bildung.
Auch im aktuellen Nationalen Aktionsplan Behinderung steht, dass Barrierefreiheit eine wichtige Voraussetzung für ein inklusives Bildungssystem ist. Mit dem Plan legt die Bundes-Regierung fest, wie sie die Behindertenrechts-Konvention der Vereinten Nationen umsetzen will. Im Bereich Hochschulen soll etwa der Zugang zu Gebärden-Sprache erleichtert werden. Überhaupt soll »Barrierefreiheit in Lehre und Forschung« ausgebaut werden. Genaue Vorgaben, was das bedeutet, gibt es nicht.
Während sich Philipp Mürling dafür einsetzt, dass er alle Wege in der Uni mit dem Rollstuhl befahren kann, stößt Julian Gimplinger auf andere Barrieren: Er ist blind und benötigt Bild-Beschreibungen und Websites, die für ihn gut lesbar sind. Und Blinden-Leitsysteme auf dem Boden, um sich zurechtzufinden. Der 22-Jährige will Journalist werden und studiert an der Fachhochschule (FH) Joanneum in Graz. Hier ist er immer wieder auf sich selbst gestellt.
An seiner FH gibt es beispielsweise keine Blinden-Leitsysteme auf dem Boden. Gimplinger musste sich mit einer eigenen Mobilitäts-Trainerin das Gebäude einprägen, um die Wege zu kennen. Außerdem waren in seinem Studiengang Unterlagen nicht barrierefrei aufbereitet. Dokumente wurden auf Zetteln ausgeteilt oder so eingescannt, dass er sie mit seinen Hilfsmitteln nicht lesen konnte. Um sie nutzen zu können, musste er die Unterlagen an eine externe Servicestelle senden.
Abgesehen von der fehlenden Unterstützung war Gimplinger enttäuscht von der Abteilung für Gleichbehandlung und Vielfalt. Dort hat er sich vor seinem Studienstart gemeldet, um sich zu informieren. Dass er tatsächlich Journalismus studieren würde, zogen die Zuständigen in der Abteilung zunächst in Zweifel. Sie dachten, das Studium sei für Gimplinger nicht geeignet, weil viel bildlich gearbeitet würde. Für ihn war das eine unverständliche Reaktion von einer Stelle, die ihm eigentlich helfen sollte. »Ich glaube, das ist nicht ganz der Sinn von so einer Abteilung«, sagt Gimplinger. Auf Nachfrage heißt es von der FH Joanneum: »Im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten ist die Stabsstelle Gleichbehandlung und Vielfalt bemüht, gemeinsam mit den Student·innen mit Behinderungen und dem jeweiligen Studiengang Lösungen zu finden, um mögliche Barrieren abzubauen.«
Viele Unis, viele Regeln
Das Problem ist: Es ist nicht genau festgelegt, was Barrierefreiheit in der Lehre bedeutet. Jede Hochschule kann eigene Regeln aufstellen. Barbara Levc, Leiterin des Zentrums Integriert Studieren an der Universität Graz, sagt: »Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogische Hochschulen sind nicht verpflichtet, Anlaufstellen für ein inklusives Studium zu haben.«
Sie haben jeweils eigene Gesetze, in denen geregelt ist, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf abweichende Prüfungs-Methoden haben. Das heißt, dass manche dann zum Beispiel eine Prüfung nicht schriftlich, sondern mündlich machen können. Oder auch, dass Aufnahme-Verfahren angepasst werden sollten.
Auch Behinderten-Anwältin Christine Steger kritisiert, dass Barrierefreiheit an jeder Uni anders umgesetzt wird. Zum Beispiel finanzieren nicht alle Universitäten Gebärdensprach-Dolmetscher·innen. Im Bereich der Barrierefreiheit fordert Steger deshalb einheitliche Bedingungen an allen Universitäten.
Kritik des Rechnungshofs
Ob eine Hochschule barrierefrei ist, ist in Österreich daher eine Sache des guten Willens. Das zeigt der Rechnungshof-Bericht »Barrierefreies Arbeiten und Studieren« aus dem Jahr 2022 am Beispiel der Universität für Bodenkultur Wien (Boku) und der Technischen Universität Graz (TU Graz). Darin steht, dass Student·innen mit Behinderungen schwieriger an Informationen kommen. Zwar stellte die Boku Broschüren zur Verfügung. Sie waren allerdings nicht barrierefrei. Auf der Website waren Informationen schwer zu finden.
Zudem waren sowohl an der Boku als auch an der TU Graz nur rund zehn Prozent der Student·innen mit Beeinträchtigungen über Unterstützungs-Stellen informiert. Hier forderte der Rechnungshof bessere Öffentlichkeits-Arbeit. Außerdem wurden beide Universitäten darauf hingewiesen, bauliche Barrieren zu beseitigen.
Vor allem Blinden-Leitsysteme seien wichtig, damit sich blinde und sehbehinderte Menschen in vielgenutzten Bereichen frei bewegen können. Hier kritisierte der Rechnungshof vor allem das Blinden-Leitsystem der TU Graz. Dieses führt Student·innen nur zu einer Informations-Stelle. Sehbehinderte Menschen können sich außerhalb dieses Bereichs nicht gut orientieren.
Es gibt aber auch positive Beispiele, wie etwa die Universität Graz (Uni Graz). Die 26-jährige Elena Kirchberger studierte dort Romanistik mit dem Schwerpunkt Italienisch. Sie ist sehbehindert und nutzt einen Rollstuhl.
Vor ihrem Studienbeginn ließ die Uni alle Treppenlifte warten. Auch Kirchbergers Wunsch nach größerer Beschilderung kam die Uni nach. Die Schilder der Hörsäle wurden in größerer Schrift bedruckt, damit sie auch für Kirchberger deutlich zu lesen waren. Dadurch konnte sie sich besser auf dem Universitäts-Gelände zurechtfinden. Für Kirchberger war das eine positive Erfahrung: »Ich bin das erste Mal wirklich als Mensch wahrgenommen worden. Die Lehrenden haben mir von Anfang an vertraut. Dadurch habe ich sehr viel Selbstvertrauen dazugewonnen«, erzählt die Studentin. So viel Selbstvertrauen, dass sie seit 2017 das Referat für Barrierefreiheit der Österreichischen Hochschüler·innenschaft an der Uni Graz leitet.
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Keine Änderung in Sicht
Dennoch gibt es auch an der Uni Graz Grenzen: Kirchberger hat ihr Master-Studium abgeschlossen und ist zum Doktorats-Studium angemeldet. Ihre Vortragenden waren skeptisch, ob sie ein Doktorats-Studium schaffen kann. Sie muss immer wieder neu überzeugen: »Wir haben schon so viel geschafft. Die können sich 100-prozentig auf mich verlassen – auch wenn es organisatorisch aufwendiger sein könnte.« Dass Kirchberger oft zu wenig zugetraut wird, kennt sie bereits von ihrem Auslands-Semester. Auch davon wurde ihr von ihren Dozent·innen abgeraten – dennoch hat sie sich davon nicht abschrecken lassen.
Zurück nach Wien. Die Akademie der bildenden Künste wurde 2021 saniert. Sämtliche Fassaden wurden neu gestrichen und Decken-Gemälde sowie Möbel für insgesamt 70 Millionen Euro erneuert. Geld für einen innenliegenden Treppenlift blieb jedoch nicht. Warum nicht? Vonseiten der Akademie heißt es auf Anfrage: Ein Lift beim Haupteingang sei zwar die beste Lösung, aber zu teuer. Stattdessen wurde am Hintereingang ein barrierefreier Eingang eingerichtet.
Am 16. Jänner 2023 veröffentlichte Philipp Mürling einen Instagram-Post, in dem er schrieb: »Ich kann leider nicht das Ende dieses absurden Schauspiels abwarten. Ich will und kann nicht mehr diesen Widerstand auf diese Art fortsetzen. Meine Lebenszeit ist, im Vergleich zu vielen anderen, absehbarer.«
Doch es passierte nichts. Trotz vieler Medienberichte ist der Haupteingang der Akademie weiterhin nicht barrierefrei. Am 2. Oktober 2023 hört man erneut den Sitzgurt von Philipp Mürling klicken. Er startet seinen Protest wieder. Um ihn herum stehen Menschen mit Plakaten. Begleitet wird seine Aktion von einem Mann mit Megafon. Er liest Zitate von Expert·innen vor, die Mürling unterstützen. Zehn Minuten lang strengt er sich an. Immer wieder fällt er die steilen Treppen hinunter. Schließlich hilft ihm jemand wieder in den Rollstuhl. Der Verschluss klickt.
- November, 2023
Geschrieben Von
Verena Bauer
und von
Theresa-Marie Stütz
Redaktion
Lisa Kreutzer
Foto von
Verena Bauer
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