Manche nennen es Urlaub

Ana Smidt und Vivien Chang erzählen, was das für sie bedeutet
Eine junge Frau sitzt seitlich auf einer Parkbank. Sie sieht mit ernsten Blick in die Kamera. Sie hat lange braune Haare und trägt ein weiße Jacke. Im Hintergrund sieht man Bäume und blauen Himmel.

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Bunte Hängematten, große Cocktails, ein rosaroter Sonnenuntergang vor einem langen Sandstrand – das sind die Bilder, die man findet, wenn man „Urlaub“ googelt. Aber nicht für alle Menschen sieht er so aus.

Wie jemand Urlaub macht, hängt von vielen Fragen ab: Kann man es sich leisten, in ein Hotel zu fahren? Muss man im Urlaub Verwandte pflegen, sodass man eigentlich doch arbeitet? Besucht man im Urlaub immer seine Familie im Ausland? Und stößt man beim Reisen aufgrund einer Behinderung auf Barrieren?

Ana Smidt und Vivien Chang wissen, dass Urlaub oft mehr bedeutet als online oder in Reiseprospekten dargestellt wird. Denn sie beide reisen, wenn sie „frei“ haben, meist zu ihren Verwandten nach Kroatien und Taiwan. Wir haben sie gefragt, welche Rolle Fürsorge bei ihren Reisen spielt, ob ihre Reisen wirklich „Urlaub“ sind – und welche Barrieren, Ängste und Freuden ihnen in der zweiten Heimat begegnen.

Zuhause ist manchmal weit weg

Anas häufigstes Reiseziel ist Slawonien, eine Region im Nordosten Kroatiens, wo ihre Verwandten leben – und wo sie selbst gelebt hat, bis sie nach einer Antibiotika-Nebenwirkung mit zwei Jahren nahezu taub wurde.

Die deutsche Logopädin, die Ana nach ihrem Hörverlust in Ex-Jugoslawien betreut hatte, riet ihrer Mutter, mit ihr nach Deutschland zu gehen. In Deutschland hätte Ana bessere Chancen auf eine passende Schule und bessere berufliche Aussichten als in Kroatien. Die Mutter hörte auf den Rat, obwohl der Vater dagegen war. Sie ließ sich scheiden.

Ana ist aus einem anderen Land nach Deutschland gekommen. Das nennt man Migration. Heute sagt sie: „Ich bin als Migrantin mit Behinderungen gekommen, auf der Suche nach besserer Infrastruktur.“

Doch Kroatien bleibt ein wichtiger Teil in Anas Leben. Hier besucht sie schon als Kind mehrmals im Jahr ihre Großeltern. Meist mit dem Bus über den Autoput, eine der meistbefahrenen Straßen Europas. Die führt vom heutigen Slowenien bis nach Griechenland. Neben unzähligen Gastarbeiter*innen nutzte auch Ana sie immer wieder, um zwischen ihrer neuen und alten Heimat zu pendeln.

Schon auf der Busfahrt mischte sich Vorfreude auf ihre Verwandten oder das von ihr geliebte kroatische Essen mit Ängsten. Auf der einen Seite liebte sie, wie die Fahrt mit so vielen anderen Heimat-Reisenden für ihren Kopf wie eine Brücke zwischen Deutschland und Kroatien war. 

Auf der anderen Seite stand sie gerade beim alleine Reisen auch unter Druck. „Damals gab es noch kein Internet. Und da ich die Sprache schlecht verstand und schlecht hörte, hatte ich immer Angst vor den Toiletten-Pausen.“ Sollte sie wegen einer zu langen Schlange an den Raststätten-Klos einmal den Bus verpassen, konnte sie nicht einfach jemanden anrufen.

In Kroatien angekommen, fühlte Ana sich sicher. So sehr, dass sie oft erst einmal in einen tiefen Schlaf fiel. Der Alltag dort gefiel ihr nur teilweise. Sie erinnert sich zum Beispiel liebend gerne an die großen Kaffee-Runden mit den Verwandten, die in Kroatien immer fester Bestandteil ihrer Besuche waren. Doch Rückzug oder gar Zeit für sich selbst, was wohl viele mit Urlaub in Verbindung bringen, war nicht gerne gesehen.

Das Bild zeigt analoge Fotos auf einem Tisch. Rechts oben hält eine Hand ein Foto hoch. Auf den Bildern sieht man mehrere Menschen.
Ana zeigt Fotos aus Kroatien.

Neben der kroatischen Kultur beeinflusste vor allem Sprache Anas Reise-Erfahrung. In Kroatien ist die Gebärden-Sprache – anders als in Deutschland – keine offizielle Sprache und noch weniger weit verbreitet. In Anas Familie spricht niemand die Gebärden-Sprache. Sie bemühte sich in den Ferien also trotz Barrieren, mit den Großeltern die kroatische Lautsprache zu lernen. 

Trotzdem versteht sie die kroatische Lautsprache heute längst nicht wie die deutsche Lautsprache oder die deutsche Gebärden-Sprache. Für Ana ist Sprache eine Verbindung zu ihrer Heimat – und etwas, das zwischen ihr und Kroatien steht.

Zwischen Vorfreude und Angst

Für Vivien Chang ist es anders. Sprache schafft für sie ein Zugehörigkeits-Gefühl im Herkunfts-Land ihrer Mutter.
Auch sie reist seit frühester Kindheit in das Herkunfts-Land ihrer Mutter: Taiwan.
Mit ihrer Mutter spricht sie zuhause Mandarin. Als Kind besuchte sie die taiwanesische Mandarin-Schule in Deutschland. Weil sie zweisprachig ist, nimmt sie bei ihren Reisen zu ihren Verwandten selbstverständlich am Alltag teil.

Und noch etwas unterscheidet die Reiseerfahrungen von Ana und Vivien: Es ist nicht Vivien, die mit Behinderungen lebt, sondern ihre Mutter und ihre Tante, die immer noch in Taiwan lebt.

Und noch etwas unterscheidet die Reiseerfahrungen von Ana und Vivien: Es ist nicht Vivien, die mit Behinderungen lebt, sondern ihre Mutter und ihre Tante, die immer noch in Taiwan lebt.

Mutter und Tante haben eine neuronale Erb-Krankheit. Das heißt: eine Erkrankung, bei der bestimmte Nervenzellen im Gehirn kaputtgehen. Sie tritt meist in der Mitte des Lebens auf und kann dazu führen, dass genaue Bewegungen und Sprechen immer schwieriger werden.

Vor der fortschreitenden Erkrankung ihrer Verwandten waren die Reisen nach Taiwan für Vivien vor allem ein entspannter Urlaub – oder wie Ana zu den Reisen sagt: „ein sehr langer Besuch“. Vivien erinnert sich vor allem an das gemeinsame Essen, die Shopping-Touren auf den Nachtmärkten Taipeis oder eine Partie „Mahjong“ (ein Brett-Spiel) mit der Familie.

Was ihre Reisen außerdem schon immer begleitet: das besondere Gefühl, plötzlich nicht mehr als „fremd“ wahrgenommen zu werden. Denn in Deutschland wird Vivien von außen immer als „Asiatin“ gelesen – in Taiwan fühlt sie sich zugehörig.

Anstelle von Barrieren begegnen Vivien in Taiwan Sorgen. Sorgen um die Mutter, die nicht mehr ohne größere Anstrengung in ihre Heimat reisen kann. Sorgen um die Tante, deren Zustand sich von Besuch zu Besuch verschlechtert – und Sorgen darum, wie es wäre, sollte sie selbst an der seltenen Erbkrankheit erkranken. „Meine Reisen sind auch immer ein Blick in die Zukunft.“

Viviens Mutter und Tante versuchen trotz Barrieren, ihren Alltag weiterzuleben. Ihre Tante, die trotz Rollstuhl und fehlendem Aufzug mit zum Familienessen ins Restaurant geht. Ihre Mutter, die an ihrem Malhobby festhält und gerne Mandalas gestaltet.

Vergleicht sie die Leben ihrer Mutter und ihrer Tante, fällt ihr auf, wie viel sichtbarer Menschen mit Behinderungen in Taiwan sind. In Großstädten wie Taipeh wurde in den letzten Jahren die Barriere-Freiheit von öffentlichen Verkehrs-Mitteln ausgebaut. Es gibt Abhol-Services für blinde Menschen an den Bahnhöfen und Spuren für Rollstühle – extra angelegte und freigehaltene Wege nur für Rollstuhl-Fahrer*innen. So sind Menschen mit Behinderungen in Taipeh viel mehr im öffentlichen Raum unterwegs, als Vivien es aus Berlin kennt. Beim Essen außer Haus genauso wie beim Singen mit ihren Pflegenden.

Ana dagegen nimmt in ihrem Heimatland weniger Inklusion wahr, auch weil die Menschen in Kroatien, wie sie sagt, noch weit davon entfernt sind, Menschen mit Behinderungen ohne Mitleid zu begegnen. „Wegen der katholisch geprägten Seele des Landes werden Menschen mit Behinderungen häufig als Menschen angesehen, die besonderen Schutz brauchen. Oder, schlimmer: Die Behinderung wird als Strafe Gottes für eine Sünde gedeutet.“

Im Gegenteil beobachtet sie heute, wie vermehrt junge Menschen, auch solche ohne Behinderungen, das Land wegen fehlender beruflicher Perspektiven verlassen. Ein Umstand, der Ana daran erinnert, dass sie es trotz ihrer Behinderungen in manchen Bereichen leichter hat als viele Menschen in Kroatien.

Eine junge Frau lächelt in die Kamera. Sie hat lange braune Haare und trägt eine weiße Jacke. Sie steht in einem Park. Im Hintergrund sieht man Bäume.
Das ist Ana in der Stadt Essen.

Vivien versucht mittlerweile, noch regelmäßiger nach Taiwan zu reisen als früher – auch wenn sie sich manchmal nach einem Urlaub ganz ohne Sorgen sehnt. Zum einen, weil sie weiß, wie vergänglich es sein kann, dass man sich bewegen kann. Zum anderen wegen der „Bedrohungssituation durch die chinesische Regierung“. „Eine zusätzliche Belastung, die zu allem Überfluss noch in meinem Kopf rumschwirrt“, und die sie wohl auch begleiten würde, wenn sie sich für ein anderes Urlaubsziel entscheiden würde. Das nächste Mal will Vivien im Herbst 2025 wieder nach Taiwan reisen.

Wann Ana wieder nach Kroatien reisen wird, weiß sie nicht. Auch, weil es das erste Mal wäre, dass sie weder begleitet noch am Busbahnhof abgeholt werden würde. Denn nachdem ihre Großeltern, bei denen sie in der Kindheit und Jugend so viel Zeit verbracht hat, gestorben sind, verlor Ana Anfang 2025 auch ihre Mutter. „Irgendwann wird sich für mich die Frage stellen, was Kroatien für mich bedeutet, wenn das letzte verbliebene Familienmitglied stirbt, mit dem ich meine Kindheit verbracht habe“, sagt sie.

Was sie aber weiß: wie die Reise das nächste Mal aussehen soll. Dann will sie bewusst die Orte Kroatiens besuchen, die ihrer Mutter wichtig waren. Am liebsten mit dem Bus und in privaten Unterkünften, weit weg von den Urlaubs Klischees, die man bei Google oder in Reise-Magazinen findet.

Geschrieben Von

Katharina Walser

Fotos von

Sofia Brandes

Redaktion

Clara Porak

In Leichter Sprache von

Constanze Busch

Geprüft von

Nikolai Prodöhl