Um 4 Uhr morgens hörte ich fünf heftige Explosionen.
„Es passiert wirklich“, sagte ich zu meiner Mutter. Sie geriet in Panik, holte sofort meinen Rollstuhl. Ich schlug vor, meine Sachen zu packen. Niemand wusste, was zu tun war. Mein Stiefvater sagte: „Es gibt keinen Ort, an den wir gehen können, und niemand wird uns aufnehmen. Wenn wir sterben müssen, dann ist es eben so.“
Es war die Nacht des 24. Februar 2022 in Charkiw. Das ist eine Stadt in der Ukraine, in der Nähe der russischen Grenze. In dieser Nacht begann der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.
Der Satz meines Stiefvaters, seine Hoffnungs-Losigkeit, brannte sich in mein Gedächtnis. Er beschreibt genau das Gefühl von Machtlosigkeit, das viele Menschen mit Behinderungen in solchen Situationen haben. Ich bin 25, querschnittsgelähmt und kann mich nicht einmal alleine im Bett aufsetzen. Draußen schlugen Bomben ein. Ohne Unterstützung konnte ich nicht fliehen. Was sollte ich tun?

Ich konnte nur diskutieren, betteln, drängen. Ohne meine Familie hatte ich keine Chance zu fliehen. Irgendwann wurde klar:
Wir würden erstmal bleiben – und hoffen. Um 6 Uhr morgens schlief ich erschöpft ein, in der leisen Hoffnung, alles sei nur ein Alptraum. Doch um 12 Uhr weckte mich das Dröhnen der Raketen.
Da war ich sicher, dass wir doch fliehen müssen. Diesmal stimmte mein Stiefvater zu. Also packten wir doch. Es war unmöglich, die meisten Dinge mitzunehmen, die ich brauchte. Ich hätte gerne meine Trainings-Geräte, die mir helfen, beweglich zu bleiben oder ein für mich angepasstes Bett mitgenommen, aber all das ist natürlich viel zu schwer. Also nahm ich drei Dinge mit, die ich in den vergangenen zehn Jahren, seit ich querschnittgelähmt bin, am meisten gebraucht habe: Kopfhörer, eine Maus und einen Laptop.

Wir wollten so schnell es ging los. Doch dann merkten wir: Alle Aufzüge der Stadt waren abgestellt. Wir lebten im zwölften Stock und ich war alles andere als leicht. Trotzdem: Bleiben war keine Option.
Ich schrieb in den Chat unserer Haus-Gemeinschaft und bat um Hilfe. Innerhalb von zehn Minuten kamen acht Nachbarn – sieben Frauen und ein Mann. Mein Stiefvater und ein Nachbar trugen mich die zwölf Stockwerke herunter, während draußen Explosionen zu hören waren. Jede Stufe fühlte sich an wie ein Kampf gegen die Zeit.
Endlich saßen wir im Auto. Wir fuhren kurz bei meiner Großmutter vorbei, aber sie wollte nicht mitkommen. Sie musste bei ihrem Sohn bleiben, den man nicht transportieren konnte. Meine Mutter nahm Abschied, ich blieb im Auto. Das verfolgt mich bis heute.
„Oma, wir sind nicht lange weg“, sagte ich ihr nur noch kurz am Telefon. Meine Großmutter war 82 Jahre alt, als der Krieg begann. Sie war der einzigartigste Mensch, dem ich je begegnet bin. Sie arbeitete ihr ganzes Leben lang als Forensikerin, ging aber früh in Rente und half meiner Mutter dabei, mich großzuziehen. Sie war wie eine zweite Mutter für mich. Meine Großmutter starb ein Jahr später. Sie hatte vier Monate ohne vernünftige Mahlzeiten, ohne Strom und Heizung gelebt und sich nie davon erholt.

Nach der Verabschiedung fuhren wir in ein Dorf außerhalb Charkiws, zu Verwandten meines Stiefvaters. Damals ahnte ich nicht, dass ich schon eine Woche später in einem fremden Land sein würde – ohne Zuhause, ohne Geld, ohne die Sprache zu können. Ich ahnte nicht, dass mein Stiefvater in den Krieg ziehen würde. Und ich damit die Person verlieren würde, die mir in den Rollstuhl helfen konnte. Oder, dass meine Stadt fast täglich beschossen werden würde. Ich war nur froh über die Stille und die Aussicht, ohne Kanonen-Donner einschlafen zu können.
Heute, 1096 Tage nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine, denke ich oft daran zurück. Denn in dieser Geschichte habe ich Glück gehabt: Ich konnte fliehen. Mit der Hilfe und Unterstützung von Verwandten und Freunden. Aber 10 Tausende Menschen mit Behinderungen hatten diese Möglichkeiten nicht. Viele blieben in umkämpften Städten oder in besetzten Gebieten, viele haben den ersten Winter nicht überlebt. Und die, die noch leben, hoffen einfach, nicht vergessen zu werden.
Menschen mit Behinderung im Katastrophen-Fall
Nur etwa jede fünfte Person mit Behinderung kann in einer Katastrophensituation sicher gerettet werden.
Menschen mit Behinderungen sind im Katastrophen-Fall zwei- bis viermal häufiger von schweren Verletzungen oder dem Tod bedroht.
andererseits-Doku: “Inklusiver Katastrophen-Schutz? Rette sich, wer kann”
Geschrieben Von
Anton Zvirko
Redaktion
Lisa Kreutzer
Fotos von
Ramona Arzberger