„Muss eine Universität das nicht aushalten?“

Bahar Sayed ist Autistin. Sie streitet seit Jahren um Barriere-Freiheit an der Film-Akademie in Wien. Der Konflikt eskaliert, als die Universität ihre Entscheidungs-Fähigkeit von einem Gericht prüfen lässt.
Eine Person sitzt an einem Tisch vor einem Fenster. Das Licht kommt von draußen und macht die Person dunkel im Bild. Über dem Fenster hängen grün-weiße Vorhänge mit Karomuster. Die Person trägt eine dunkle Jacke und eine Mütze.

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Wichtige Wörter in diesem Text

Neurodivergenz bedeutet:
Manche Menschen denken, fühlen und lernen anders als die meisten.
Das liegt daran, dass ihr Gehirn anders arbeitet.

Zu Neurodivergenz gehören zum Beispiel Autismus, ADHS oder Lern-Schwierigkeiten.

 

Ableismus
Menschen mit Behinderungen werden in der Gesellschaft diskriminiert. Zum Beispiel, weil es viele Barrieren gibt. Oder, weil es viele Vor-Urteile gibt.

*Bahar Sayed heißt eigentlich anders. Sie möchte, dass ihr echter Name nicht veröffentlicht wird. Deswegen haben wir ihn in diesem Text geändert.

Am 26. Juni 2024 öffnet Bahar Sayed ihr Postfach. Sie liest eine Mail, die ihr Leben verändern könnte. Die Leiterin ihrer Universität schreibt, dass sie bei einem Wiener Gericht eine Erwachsenen-Vertretung für Sayed angeregt hat. Das sind Personen, die Entscheidungen für Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen treffen. Dafür muss ein Gericht sagen: Die Person kann wichtige Entscheidungen wegen Behinderungen oder Erkrankungen nicht alleine treffen. 

Von dem Schritt der Leiterin wusste Sayed nichts. Ein gemeinsames Gespräch darüber wurde ihr erst danach angeboten. Sayed ist wütend und erzählt auf ihrem öffentlichen Facebook-Profil von dem Schritt des Rektorats. Das Rektorat ist die Leitung der Universität.

Wenige Tage später verschickt das Rektorat eine weitere Mail. Diesmal auch an knapp 300 Studierende und Mitarbeitende der Wiener Film-Akademie –  mit der Information, dass ein „Verfahren zur Einrichtung einer gerichtlichen Erwachsenen-Vertretung“ für Sayeds universitäre Angelegenheiten eingeleitet wurde. Alle können lesen, dass die Rektorin Sayeds Entscheidungs-Fähigkeit infrage stellt. Sayed trifft dieser Schritt hart. Es fühlt sich an, als würde ihre eigene Universität versuchen, sie zu entmündigen, sagt sie. Also so, als dürfe sie nicht mehr selbst entscheiden, was passiert.

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Die Universität hat die Erwachsenen-Vertretung ausschließlich für Dinge angeregt, die Sayeds Studium betreffen. Aber: Das Gericht entscheidet am Ende darüber, ob und in welchen Angelegenheiten eine Vertretung notwendig ist.

andererseits liegen über 500 Mails und Dokumente vor, die zeigen, wie ein Konflikt eskaliert ist. Ein Konflikt, den ein Mitarbeiter des Referats für Barriere-Freiheit der Österreichischen Hochschüler*innenschaft ein „institutionelles Versagen auf allen Ebenen“ nennt. Institutionelles Versagen bedeutet, dass Menschen nicht gut behandelt oder nicht geschützt wurden, weil die Organisation Fehler gemacht hat oder nicht reagiert hat.

Der Konflikt zeigt, wie Menschen mit unsichtbaren Behinderungen gegen Barrieren kämpfen. Und wie Strukturen und Systeme an Universitäten für sie oft nicht funktionieren.

Im Herbst 2014, rund 10 Jahre bevor Bahar Sayed die Mail der Rektorin bekommen hat, begann sie ihr Studium an der Film-Akademie. Damals wusste sie noch nicht, dass sie Autistin ist. Aber schon damals merkte sie: Vieles, das andere ganz normal finden, ist für sie schwierig. Erst im Jahr 2021 erhält sie eine Erklärung dafür: Sie bekommt eine Autismus-Diagnose. Immer wieder pausiert sie ihr Studium, weil es ihr gesundheitlich und psychisch schlecht geht.

Autist*innen nehmen Informationen anders auf als die meisten Menschen. Das bedeutet, dass sie ihre Umwelt und sich selbst anders wahrnehmen. Manche sagen: Ihr Gehirn funktioniert anders. Gerade bei Frauen sind späte Autismus-Diagnosen wie bei Sayed keine Seltenheit.

Sayed hat Schwierigkeiten damit, die Emotionen anderer einzuordnen – so wird es ihr bei der Autismus-Diagnose erklärt. Es kann zu sozialen Miss-Verständnissen und Konflikten kommen.

Und es stimmt: Sayed und Mitarbeitende der Wiener Film-Akademie geraten immer wieder aneinander. Sayed wirft ihnen Diskriminierung und Mobbing vor. In dem Mail an die Angehörigen der Film-Akademie wirft die Rektorin Sayed wiederum “Verleumdung und Rufschädigung” vor.

Der Schritt, eine Erwachsenen-Vertretung für eine Studentin mit Behinderungen anzuregen, ist der Höhepunkt dieses langjährigen Konflikts. 

Das ist Bahar Sayed. Sie möchte nicht erkannt werden.

In der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen steht: Studieren muss für Menschen mit Behinderungen ohne Barrieren möglich sein. Österreich hat die Konvention vor über 15 Jahren unterschrieben. Von Hürden und Barrieren betroffen sind viele Studierende: Laut Studien-Sozial-Erhebung aus dem Jahr 2023 hat rund ein Fünftel der Studierenden Behinderungen oder Erkrankungen und dadurch Schwierigkeiten beim Studieren. Die Zahl ist damit in den letzten Jahren deutlich gestiegen. 

Einige österreichische Universitäten haben deswegen Maßnahmen und Anlauf-Stellen für Studierende mit Behinderungen geschaffen. Auch die Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien (MDW), zu der die Wiener Film-Akademie gehört. Für ihre Diversitäts-Strategie hat die MDW einen Preis gewonnen. Das Ziel dieser Strategie ist mehr Teilhabe und weniger Diskriminierung von Studierenden und Mitarbeitenden.

Trotzdem hat Sayed Schwierigkeiten im Studium. Sie sagt: Sie braucht keine Erwachsenen-Vertretung, sondern mehr Barriere-Freiheit. Das heißt für Autist*innen zum Beispiel, dass Dinge für sie nachvollziehbar sind. Sie braucht klare Kommunikation. Wenn sie etwas nicht versteht, löst es großen Stress aus.

Sayed erklärt es so: „Für uns fühlen sich ungelöste Probleme an wie offene Tabs auf einem überlasteten Computer, die man nicht schließen kann und die den Rechner verlangsamen. Jetzt sind all diese Tabs geöffnet und ich bin völlig überfordert.“

Sayed braucht klare Abläufe, sagt sie. Wenn zum Beispiel Abläufe in Lehr-Veranstaltungen plötzlich anders sind, als zuvor kommuniziert, löst das große Verärgerung aus. Sayed erzählt auch von Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit anderen. So geht es vielen Autist*innen, sagt Anna Binder-Kita. Sie ist Psycho-Therapeutin, die sich unter anderem auf Neurodiversität spezialisiert hat. „Gerade an Unis gibt es oft viele ‘ungeschriebene’ Regeln, und die sind für autistische Studierende besonders herausfordernd“, erklärt Binder-Kita. Viele Autist*innen brauchen nachvollziehbare Strukturen. „Oftmals auch für Anforderungen, die für neurotypische Menschen selbstverständlich sind“, so Binder-Kita.

Sayed bittet die Behinderten-Beauftragte der Universität darum, ihr bei der Kommunikation mit Universitäts-Angehörigen zu helfen. Als eine Art „Dolmetscherin“. Trotzdem verbessert sich die Situation in Sayeds Augen nicht. Sayed verzweifelt immer mehr, fühlt sich gezwungen, in einem System zu funktionieren, das für sie nicht funktioniert. 

Sie wirft Angehörigen der Universität vor, sie schlecht zu behandeln. Die Rektorin der MDW weist die Anschuldigungen zurück. In der Anregung auf Erwachsenen-Vertretung schreibt sie: „Bei der Studierenden Bahar Sayed hat sich in den letzten Jahren zunehmend der Eindruck festgesetzt, dass sie gegen das ‘System Universität’ kämpfen müsse, da sie die existierenden Rahmen-Bedingungen und Regelungen für sich nicht passend empfindet und daher nicht akzeptieren will.“

Sayed scheint es körperlich und psychisch sehr schlecht zu gehen, so die Rektorin weiter. Und sie gibt an: Die Erwachsenen-Vertretung soll eine Hilfe sein, um ihr Studium abzuschließen. Aber Sayed fühlt sich nicht unterstützt – ganz im Gegenteil. Sie fühlt sich in ihren Bedürfnissen nicht ernst genommen.

Wie ein offener Tab auf einem überlasteten Computer

Die Rektorin der MDW hat mit der Einschätzung recht, dass es Sayed psychisch und körperlich schlecht geht. Über die Jahre entwickelt sie schwere Depressionen. Zu hoher Druck in ihrem Kopf löst aus, dass sie manchmal aus dem Nichts heraus in Ohnmacht fällt. Sayeds Konflikt mit Professor*innen wurde über die Jahre immer größer, ihr psychischer Zustand verschlechterte sich.

andererseits liegen Mails zwischen Sayed und MDW-Vertreter*innen aus den Jahren 2018 bis 2024 vor. Mit der Zeit wird Sayeds Ton rauer. Aus sachlichen Mails werden verzweifelte Hilfe-Rufe und wütende, seitenlange Anfeindungen. In dieser Zeit wendet sich Sayed an viele Stellen. An die ÖH, die Studierende in Österreich vertritt, an den Arbeitskreis für Gleich-Behandlungs-Fragen, an die Behinderten-Beauftragte und an die Hoch-Schüler*innenschaft der MDW. Dort arbeiten Menschen, die bei Problemen und Diskriminierung helfen sollen.

Einer davon ist Julian Gredinger. Er ist Mitarbeiter beim Referat für Barriere-Freiheit bei der Österreichischen Hochschüler*innenschaft. Sie setzen sich für die Rechte von Studierenden ein. Er nennt die Vorfälle rund um Sayed ein „institutionelles Versagen auf allen Ebenen“. Gerade neurodivergente Studierende, sagt er, fühlen sich mit ihren Anliegen oft alleine gelassen. Denn andere können ihre Herausforderungen oft nicht verstehen. 

Yara Hofbauer ist eine junge Frau mit dunklen Haaren. Sie trägt einen schwarzen Pullover und schaut in die Kamera
Das ist Tara Hofbauer

Die Universität wehrt sich gegen die Vorwürfe. In einem Schreiben an das Wissenschafts-Ministerium schreibt Rektorin Ulrike Sych im Jahr 2024 in Bezug auf die Vorwürfe und Anschuldigungen von Sayed: „Das Arbeits-Pensum und der hohe personelle Aufwand für die MDW, sich dagegen zu wehren, ist ins Immense angestiegen und nicht mehr zumutbar.“ Trotzdem wolle die Universität Sayed den Studien-Abschluss ermöglichen.

Dafür organisierte die Universität zum Beispiel Unterstützung durch die Autisten-Hilfe. „Doch mir geht es nicht um den Abschluss. Mir geht es um echte Teilhabe“, so Sayed. Damit meint sie zum Beispiel, dass Lehr-Personen mit autistischen Verhaltens-Weisen umgehen können. „Ich weiß, dass der kleine Autist in mir herausfordernd sein kann“, sagt Sayed, „aber muss eine Universität, die Inklusion so hervorhebt, das nicht aushalten können?“

Die Rektorin und die Anlauf-Stellen der MDW, mit denen Sayed in Kontakt war, möchten Fragen zu Sayeds Fall nicht beantworten. Auf andererseits-Anfragen heißt es wiederholt, dass keine Auskünfte zu konkreten Angehörigen der MDW weitergegeben werden. Die Rektorin Ulrike Sych schreibt: Inklusion ist an der Universität eine Selbstverständlichkeit. Also: Dass alle Menschen an der Universität mitmachen sollen – egal, ob sie eine Behinderung haben oder anders sind. Die Universität will sich in Zukunft mehr um Neurodiversität kümmern.

Unsichtbare Barrieren

Schließlich wendet sich Sayed nicht nur an Anlauf-Stellen ihrer Universität. Sie schreibt auch an Uni-Foren, Jurist*innen und Ministerien. Im Jahr 2024 kommt es auch zu einer Gerichts-Verhandlung wegen eines Streits über den Abschluss einer Lehr-Veranstaltung. Sayed sagt: Sie habe kaum Leistungen für die Lehr-Veranstaltung erbracht. Die gute Benotung fühle sich für sie an, als wolle man sie möglichst schnell zum Studien-Abschluss bringen. So, als wolle man sie loswerden. Sayed nennt es Mobbing. Das Gericht entscheidet: Sayed hat genügend Leistungen für die Beurteilung erbracht, die Benotung ist rechtmäßig. Es gibt keine Hinweise auf Mobbing.

Laut Rechts-Anwältin Yara Hofbauer haben es neurodivergente Personen in Gerichts-Vefahren oft schwer. “Diskriminierung gegenüber neurodivergenten Personen ist nicht einfach nachzuweisen“, sagt sie. Zum Beispiel ist es schwierig, juristisch zu beweisen, dass eine Universität für autistische Student*innen nicht barrierefrei ist. Denn Autist*innen können ganz unterschiedliche Dinge für die Barriere-Freiheit brauchen. Und oft ist das, was sie brauchen, nicht sichtbar. Klare Kommunikation oder verlässliche Regeln zum Beispiel. Wenn eine Rampe fehlt, ist es offensichtlich, dass das eine Barriere für Rollstuhl-Nutzer*innen ist. Bei Autist*innen und anderen neurodivergenten Personen ist man davon abhängig, dass sich Anwält*innen oder Richter*innen mit Neurodivergenz auskennen. Und das ist oft nicht der Fall, so Hofbauer.

Ein Mann mit kurzen Haaren und Brille schaut ernst in die Kamera. Er trägt ein schwarzes Hemd. Das Bild ist in schwarz weiss.
Das ist Oliver König

Ein System, das versagt

Im Universitäts-Gesetz ist geregelt, dass Studierende mit Behinderungen Anpassungen im Studium beantragen können. Zum Beispiel alternative Prüfungs-Methoden. Wer zum Beispiel Schwierigkeiten bei schriftlichen Prüfungen hat, darf stattdessen eine mündliche Prüfung beantragen. Lehr-Personen können solche Anträge aber auch ablehnen.

Man ist also davon abhängig, wie offen und unterstützend Lehr-Personen sind, sagt Oliver Koenig. Er ist Bildungs-Forscher mit Schwerpunkt Inklusion. An Universitäten orientiert man sich bei der Unterstützung von Studierenden mit Behinderungen oft stark am medizinischen Modell von Behinderungen. Beim medizinischen Modell werden Menschen mit Behinderungen als Problem gesehen, nicht die Barrieren in der Gesellschaft. Und oft müssen Studierende Erkrankungen oder Behinderungen nachweisen. Das bedeutet viel Aufwand und Stress für die betroffenen Studierenden.

Doch selbst wenn ein guter Wille da ist: Alternative Prüfungs-Methoden alleine machen eine Universität noch nicht zu einem inklusiven Bildungs-Ort. „Ich kenne unzählige Geschichten von Studierenden, wo zwar eine abweichende Prüfungs-Methode gewährt wurde, aber im Subtext den Personen klar vermittelt wurde: Warum studierst du hier überhaupt?“, so Koenig. Das fühlt sich für Betroffene nicht gut an.

 

Ein Studium mit Behinderungen abschließen zu können, ist laut Koenig meistens nur dann möglich, wenn man viel aushalten kann.  „Nicht nur, aber auch durch das, was sie an Universitäten an ableistischen Haltungen erleiden müssen. Also mit Vorstellungen davon, was als ‚normal‘ oder ‚leistungsfähig‘ gilt“

Koenig bezieht sich hier nicht auf die MDW. Probleme mit Inklusion gibt es an vielen österreichischen Universitäten. Stellen für Inklusion und Barriere-Freiheit sind laut Koenig meist unterbesetzt. Die rechtlichen Grundlagen für Studierende mit Behinderungen sind nicht vollständig. Eine Überprüfung der Universitäten BOKU Wien und TU Graz durch den Rechnungs-Hof zeigt zum Beispiel: An keiner der Universitäten gibt es Richtlinien dafür, wann alternative Prüfungs-Methoden zugelassen werden müssen.

Ein Streit mit Konsequenzen

Am 19. August 2024 wurde entschieden: Sayed bekommt keine Erwachsenen-Vertretung. Doch auch wenn die Erwachsenen-Vertretung vom Tisch ist: Sayed hat Angst, dass sich der Streit mit der Universität schlecht auf ihre Karriere auswirken wird. Immer wieder fragt sich Sayed, ob sich das Streiten lohnt. Doch sie hofft, dass ihr Vorgehen zumindest eine Verbesserung für zukünftige autistische Student*innen bringt.

Und es tut sich etwas: Im November 2024 startete die MDW ein neues Angebot für neurodivergente Studierende: Ein monatliches Treffen für einen Austausch über das Studieren mit Neurodivergenz. Dort werden mögliche Verbesserungen erarbeitet. Für Sayed kommt dieser Schritt zu spät. Denn sie hat ihr Studium mittlerweile abgeschlossen.

Obwohl vieles schon lange in der Vergangenheit liegt, will Sayed das Erlebte nicht loslassen. Andere verstehen nicht, warum ihr das alles so wichtig ist, erzählt sie. Es liegt auch an ihrem Autismus, erklärt sie. Der offene Konflikt bleibt in ihrem Gedächtnis. Wie ein offener Tab, den sie nicht schließen kann.

Geschrieben Von

Sandra Schmidhofer

Fotos von

Philip Horak 

Redaktion

Lisa Kreutzer