Zu Silvester entscheidet sich unsere Autorin spontan ihre Haare abzurasieren. Nachher bemerkt sie: Es war ihre Wut, die sie so mutig machte. Hier erzählt sie vom Ärger nach einem Jahr Pandemie, von Britney Spears und der Frage, was ein Mutausbruch ist.

Es war der 31.12. 2020. Lockdown Nummer drei, glaube ich. Ich: Risikopatientin, seit gut einem Jahr komplett isoliert. Silvesterparty: nur über Zoom. Stimmung: komplett im Arsch.

Um 22.30 bewegte ich mich ziellos durch meine Ein-Zimmer Wohnung, als ich meinen zerzausten Lockenkopf im Vorzimmer Spiegel erblickte. Plötzlich gab es in meinen tausenden Hirnwindungen nur einen Gedanken: “Die Haare müssen ab, ich kann sie nicht mehr sehen!” Im Badezimmer mit dem Rasierer in der Hand kamen noch andere Gedanken dazu.“ Die sind einfach nicht gut gestylt, ich sollte sie waschen. Oder Bürsten?” Das ist der Moment in dem ich wusste, es wird ernst. Nach 15 Minuten hin und her, einem “AAAH! Ich hasse Locken!” und einer regen Diskussion im Gruppenchat schnitt ich mir mit einer riesengroßen Schere, die erste Strähne ab.

Ein tiefer Atemzug und ein verzweifelter Blick in den Spiegel. Dann die zweite Strähne.

Diesen Text wollte ich schon viel früher abgeben, aber mir hat der Mut gefehlt. Witzig irgendwie. Ich habe eine ganze Liste von Dingen über die ich im Zusammenhang mit Mut schreiben könnte: vom bevorstehenden Tod meiner 99-Jährigen Großmutter über meine Erste Dosis der Covid-19 Impfung bis zu dem Abend, an dem ich mir eine Glatze rasiert habe weil mir langweilig war.

Zumindest dachte ich das am Anfang. Eigentlich war mir nicht langweilig. Ich war genervt. So richtig, tief im Innern. Gut, dass ich an dem Tag alleine gewesen bin. Ich hätte bestimmt jeden Menschen zerstört, der es gewagt hätte in meiner Anwesenheit zu atmen.

Irgendwann sah ich dann aus wie das Übungsmodell für einen Herrenhaarschnitt. Ich musste lachen und schickte ein Bild meines mit Haaren befallenen Waschbeckens in den Gruppenchat. Die ganze Zeit, die ich so vor dem Spiegel saß und an meinem Haar herumwerkelte, habe ich mir eigentlich nichts gedacht, ich war einfach nur frustriert. Frustriert und vielleicht einsam, nach einem Jahr Isolation.

Aber ich war auch wütend. Ich war sauer. Sauer auf Corona, sauer auf Leute die mir, einer behinderten Frau, sagten: “Keine Panik, es trifft nur Menschen mit Vorerkrankung!” Ganz ehrlich wenn ich eines bin, dann eine Vorerkrankung auf Rädern. Ich war sauer auf die Regierung, an sich nichts Neues aber wie Menschen in Machtpositionen so rücksichtslos mit der Bevölkerungsgesundheit umgehen können, ist mir bis heute ein Rätsel. 

Ganz besonders wütend war ich auf alle, die zu Silvester Party machten. Ich wusste genau: Während ich im Bad einen Kampf mit meinen Haaren, meiner Wut und meinem Verständnis davon ausführe, wie eine Frau auszusehen hat, treffen sich nicht weit weg ein Haufen privilegierter Nicht-Behinderter, die sich ihrer eigenen Endlichkeit nicht bewusst sind. Schweine!

00.04. Ich musste an Britney Spears denken, die im Jahr 2007 einige Nervenzusammenbrüche hatte. Der Moment, an den sich viele erinnern, ist der in dem sie sich mit Tränen in den Augen eine Glatze rasierte. Damals sind die Medien über sie hergefallen, alle haben sich über sie lustig gemacht. Britney soll zu ihrer Friseurin gesagt haben: “Ich will die Haare weg haben, ich will dass sie von Niemandem mehr angefasst werden!” Vermutlich meinte sie damit ihre unzähligen Stylisten, möglicherweise auch Paparazzis, die ihr in den Wochen zuvor oft nahe kamen. Sie stand unter enormem Druck. Ihr Grundrecht auf Privatsphäre wurde nicht geachtet.                                                                                        

“Friseurin versuchte, Spears‘ Haare zu retten-Britney Spears trägt Glatze und entsetzt Fans und Fachleute: Die Friseurin, in deren Laden die Popsängerin zum Rasierapparat griff, hatte versucht, den Radikalschnitt zu verhindern – vergeblich.” lautet die Schlagzeile im Spiegel am 18.02.2007.  

Jahrelang hatte ich schulterlanges Haar, dicke schwarze Locken, die sich von nichts und niemandem bändigen ließen. Als Teenager habe ich sie oft geglättet, weil sich die beliebte Mädchen- Clique über meinen wilden Llockenkopf lustig machte und mir unterstellte, ich würde meine Haare nicht pflegen – bei Weitem der schlimmste Vorwurf unter heranwachsenden Frauen. Alles ist erlaubt, aber auf Vernachlässigung der Haarpflege gilt die Höchststrafe: soziale Isolation. Wer Locken hat, weiß: Bürsten sind der Feind. Locken Regel Nummer 1: Nur bürsten wenn die Haare nass sind, zuvor unbedingt mehrere Tonnen Conditioner rein. Unter keinen Umständen, niemals, nicht, sollte Mensch es wagen Locken im trockenen Zustand zu bürsten.

Meine neue Frisur ist keinem Nervenzussammenbruch geschuldet. Aber sehr wohl der Tatsache, dass ich mich damals auch mit den anderen Mädchen meiner Klasse über Britney lustig gemacht habe. Je älter ich werde, um so mehr kann ich dieses Gefühl verstehen: Das alles zu viel ist, man selber nicht weiß was los ist, aber das Bedürfnis hat, aktiv etwas zu verändern. Ich liebe meine neue Frisur, auch wenn ich jetzt aussehe wie ein Schwammerl, weil mein dickes schwarzes Haar in alle Richtungen nachwächst und einen kleinen Schwammerl-Hut bildet. Ich feier’ den Look!

Im Nachhinein weiß ich auch: Ich war wütend auf das Patriarchat, das System das als Frauen gelesene Menschen unterdrückt, auch das hat zu meiner Glatze beigetragen. In den Wochen zuvor gab es in meinem Freundeskreis einige intensive Gespräche über Sexismus und sexualisierte Gewalt. Ich empfand alle diese Gespräche als unendlich wichtig und bereichernd, aber eins waren sie nicht: einfach. Jedes Gespräch, und es waren viele, fühlte sich an wie ein Tanz im Feuer. Es machte mich so betroffen und fassungslos, dass so viele meiner Freundinnen, sexualisierte Gewalt erfahren haben. Natürlich nicht alle im gleichen Ausmaß, von Catcalling bis Vergewaltigung war alles dabei. Um das Ausmaß geht es dabei überhaupt nicht. Es geht um das Grundproblem. 

Nachdem ich mir erfolgreich eine Glatze rasiert hatte und etwaigen Freund:innen Bilder schickte, bekam ich viele Nachrichten: “WOW! Wie mutig! Das wollte ich auch schon immer mal machen aber ich trau mich nicht!” Ich kann den Gedanken verstehen, aber ich fühlte mich gar nicht mutig in dem Moment. Es war einfach der richtige Zeitpunkt. Später, nach dem Lockdown ist mir dann aufgefallen, dass ich mit meiner Glatze als Frau ganz anders wahrgenommen werde. Wenn ich das vorher gewusst hätte, dann hätte es sich bestimmt mutig angefühlt, aber so weit habe ich beim Haareschneiden nicht gedacht. Viele meiner Freundinnen trauen sich wohl nicht eine Glatze zu tragen, weil sie sich dieser negativen Außenwirkung sehr wohl bewusst sind. 

Ich glaube oft brauchen Menschen zuerst Wut, um dann etwas Mutiges tun zu können. Wut ist sozusagen die Vorbotin von Mut. Vom Wutausbruch zum Mutausbruch. Mit dem Gedanken, dass Wut auch zu Mut führen kann, lässt sich Wut viel besser ausleben. Wir sollten uns als Gesellschaft Wut viel öfter erlauben. Wut macht uns stark und mutig.

Soraya Chemaly beginnt ihren TedTalk zum Thema Wut von Frauen mit den Worten: “Manchmal werde ich wütend,und es hat lang gedauert, diesen einfachen Satz auszusprechen. In meiner Arbeit bebt mein Körper manchmal vor Wut. Aber egal wie gerechtfertigt meine Wut war, wurde mir mein ganzes Leben lang immer klar gemacht, meine Wut sei eine Übertreibung, eine Fehldarstellung, die mich unhöflich und unsympathisch wirken lässt. Als kleines Mädchen lernte ich, dass Wut eine Emotion ist, die man besser nicht ausdrückt.” 

Menschen, die als weiblich gelesen werden, wissen was die Gesellschaft von ihnen erwartet: Immer nett und freundlich sein, lächeln, schön sein. Mit “schön sein” meine ich immer schön dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, dass immer davon abhängig ist was dem männlichen Blick gerade gefällt. Lange, gepflegte Haare werden mit Sinnlichkeit und Weiblichkeit gleichgesetzt. Wer eine Glatze hat, gefällt dem männlichen Blick nicht. 

Gerade jetzt, im April 2021, ist Britneys Spears wieder in den Medien. #FreeBritney! Jetzt wissen wir was zu ihren Krisen und Zusammenbrüchen geführt hat. Als Britneys Spears wegen ihrer Eskapaden in den Medien war, war ich zwölf. Ich erinnere mich noch daran, dass auf meinem Schulweg eine Trafik lag, in der wir uns immer die Bravo und Kaugummi gekauft haben. Eines Tages bezahlte eine Frau vor mir gerade eine dieser Klatschzeitungen am Titelblatt groß und in Farbe: ein Bild von Britneys Spears mit halb fertiger Glatze, Rasierer in der Hand und Verzweiflung in den Augen. Der Trafikant, ein grummeliger alter Mann mit Bierbauch sagte nur: “Jetzt hats scho wieder einer den Vogel rausgehaut.” Damals habe ich verlegen gelacht, heute würde ich das nicht mehr tun.

Ich habe gelernt, stolz auf meinen Mut zu sein. Denn ich bin nicht alleine betroffen von der Ungerechtigkeit, die mich wütend macht. Ich habe das eines Abends, in meiner Küche am Boden sitzend, festgestellt. Etwas in mir ist zusammengefallen. Fuck. Ich bin nicht alleine. Ich schob meinen Laptop zur Seite, schaltete meine Video Kamera aus und schenkte mir ein Glas Wein ein, es schmeckte tatsächlich etwas salzig, so sehr habe ich geweint.

Text: Yuria Knoll

Grafik: Clara Sinnitsch