Luise Jäger und Clara Porak haben mit Kay Matter über Behinderung und Sex gesprochen.
Wichtige Wörter in diesem Text:
ME/CFS
ME/CFS ist eine Krankheit. Oft bekommen Menschen ME/CFS, nachdem sie sich mit einem Virus angesteckt haben. Zum Beispiel mit dem Corona-Virus. Menschen mit ME/CFS geht es sehr verschieden: Sie sind zum Beispiel sehr erschöpft. Sie haben Schmerzen. Sie haben Probleme mit dem Schlafen und dem Konzentrieren.
Aber für alle Menschen mit ME/CFS ist zu viel Anstrengung gefährlich. Wenn sie zu viel machen, geht es ihnen schlechter.
trans
trans bedeutet: Ein Mensch hat nicht oder nicht nur das Geschlecht, was bei der Geburt bestimmt wurde. Zum Beispiel: Menschen sagen bei der Geburt: Das ist ein männliches Kind. Aber der Mensch ist eine Frau.
queer
Queer bedeutet: Es gibt viele verschiedene Menschen. Jeder Mensch ist anders. Viele Menschen sagen: Ich bin queer. Zum Beispiel: Sie sagen das, wenn sie lesbisch oder schwul sind. Sie sagen das, wenn sie trans sind. Queer ist ein Wort, das fast alle verwenden. Es bedeutet: Wir sind eine Gemeinschaft. Wir leben nicht, wie die meisten Menschen in der Gesellschaft.

Du hast ein Buch geschrieben, in dem es um eine Person mit ME/CFS geht. Du hast diese Krankheit auch.
Warum war es Dir wichtig, so ein Buch zu schreiben?

Es gab keine Texte zu dem Thema, in denen ich mich wiedergefunden habe. Ich wollte schreiben, was mir fehlt. Aber für mich ist Schreiben auch immer eine Form von Orientieren und Nachdenken. Es hilft mir meine eigene Situation zu verstehen.

Es geht in dem Buch viel um Deine Erkrankung und um Schmerzen, aber gleichzeitig auch um Verliebtsein und um Sex. Warum hast Du Dich entschieden, von beiden gemeinsam zu erzählen?

Wenn man chronisch krank oder behindert ist, fallen die Lebens-Bereiche, die mit Lust und Freude zu tun haben, ja nicht weg. Es ist ja genau dieses Nebeneinander, das auch irgendwie so schwer zu begreifen ist. Es ist total lustig und gleichzeitig ist es natürlich total ernst. Und also das wollte ich schon abbilden, diese ganzen Gegensätze. Das ist ja eine Lebens-Realität.

Der Körper ist auch viel Thema in Deinem Buch. Wie hat die Krankheit Dein Verhältnis zu Deinem Körper verändert?

Bei ME/CFS gibt es nur Behandlungs-Ansätze, wo es darum geht, dass man die eigenen Grenzen achtet und sich nicht überanstrengt. Das war für mich ein großer Unterschied zu meinem Leben davor.
Wenn man nicht chronisch krank oder behindert ist und unter 30, dann muss man einfach nicht darüber nachdenken, was man für körperliche Grenzen hat. Man kann einfach wenig schlafen, Alkohol trinken und Sport machen. Das war dann für mich anders. Den Körper immer im Blick haben, das ist zermürbend. Vor allem, wenn man ein Umfeld hat, in dem das nicht so viele Menschen machen müssen.
Die Krankheit hat aber auch meine Wertschätzung für meinen Körper verändert. Ich habe auch mehr Gefühl für ihn entwickelt. Ich wusste davor nicht mal, welche Dinge mein Nervensystem stressen, welche Leute, welche Situationen. Man lernt ja auch, das möglichst nicht zu fühlen. Weil man so viel arbeitet. Wenn man das nicht mehr kann, ändert sich alles.



Hat sich Deine Beziehung zu Sex auch verändert?

Irgendwie schon. Ich glaube, ich habe grundsätzlich zu vielen Sachen ein klareres Verhältnis bekommen. Durch diese große Ruhe, zu der ich gezwungen war.
Der Gegensatz zwischen 23 Stunden von 24 Stunden am Tag alleine im Bett liegen und dann eine Sex haben ist viel größer, als wenn man in der restlichen Zeit unterwegs ist. Momente von Lust haben ein größeres Gewicht, weil sie schwerer zugänglich sind.Und man braucht sie mehr, weil man nicht die ganze Zeit Sachen machen kann, die Spaß machen.
Bei vielen Leuten mit chronischen Erkrankungen oder auch Behinderungen, gibt es einen sehr großen Abstand zwischen, wie sie eigentlich wissen, dass sie sich verhalten sollen, weil das das Gesündeste wäre, und wie sie sich verhalten. Man erwartet von Menschen, die chronisch krank sind, dass sie sich mega kontrolliert verhalten. Also würde man, wenn man ME/CFS hat, idealerweise immer Pausen machen, wenn man angestrengt ist. Auch beim Sex. Aber ich habe mich dabei auch voll oft überanstrengt.
Abgesehen davon gibt es diese Erzählung, dass Sex stürmisch sein muss. Die hat sich für mich auch geändert.

Wie hängen für Dich Queer sein und chronisch krank sein zusammen?

Viele Arten queer oder trans zu sein funktionieren nicht, wenn man chronisch krank ist oder behindert ist. Zum Beispiel, dass alle schwulen oder trans Männer ins Fitness-Sudio gehen, damit sie große Muskeln bekommen. Das konnte ich halt nicht. Ich konnte auch nicht in den Laden gehen und mir Männer Klamotten kaufen.
Mein Gefühl ist: Ich glaube, in der Gesellschaft, in der wir leben, wird immer auch so getan, als könnte man nur eine von diesen Sachen haben, sonst ist es zu viel: man darf behindert sein oder man darf queer sein. Aber ich bin beides. Manchmal ist das auch praktisch, zum Beispiel weil Behinderten-Toiletten oft auch geschlechts-neutral sind.
Gleichzeitig ist es aber auch eine ähnliche, grundsätzliche Erfahrung. Chronisch krank sein und queer sein: Beides weicht von der Norm ab, also wird als “nicht normal” angesehen.

Würdest Du sagen, dass die Sexualität für Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen für Dich ein politisches Thema ist?

Ja, natürlich – auf vielen Ebenen. Ich glaube, es ist auch mega wichtig, da noch mal zu unterscheiden, weil es sehr viele unterschiedliche Lebens-Realitäten von behinderten und chronisch kranken Personen gibt. Aber natürlich ist es politisch, weil es immer mit Selbstbestimmung zu tun hat. Und weil jeder Lebens-Bereich von einer behinderten Person in dieser Gesellschaft politisch ist.
Es ist mega hart, dass es die Norm ist, nicht behindert zu sein. Und dass man dann auch bei Dating und bei Sex sagen muss: “Hey, aber für mich funktioniert das so nicht.” Weil für Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen funktionieren viele Dinge nicht, die bei Dating und Sex erwartet werden.

Wie war das beim Schreiben Thema?

Sex ist eine sehr intensive Begegnung. Deshalb geht es in dem Buch oft, wenn es scheinbar um Sex geht, um Begegnung.
Fürsorge hat mich auch sehr viel beschäftigt. Der Text ist für mich auch ein Nachdenken darüber, was für andere Umgangs-Formen es für Sex geben könnte. Umgangs-Formen, die Sex zugänglicher machen für Menschen mit Behinderung.
Ich finde, das ist ein bisschen ähnlich, wie wenn es um die Zugänglichkeit von Gebäuden geht. Da gibt es einen Begriff: aesthetic of access. Auf Deutsch heißt das: das Schöne am Zugang. Dass man versucht, den Zugang bereits so mit reinzudenken, dass es von Anfang an zugänglich ist und die Zugänglichkeit nicht das Schöne stört, sondern Teil davon ist.

Wie wäre Sex in einer Welt, in der eben diese Ästhetik von Zugänglichkeit mitgedacht wäre? Hast Du da Ansatzpunkte?

Ich glaube, wir könnten viel mehr als Sex begreifen. Ich glaub, das würde Sex viel zugänglicher und verspielter machen. Es würde nicht die ganze Zeit um Fortpflanzung gehen.
Ein Ort, an dem das schon ein bisschen so ist, ist BDSM. Da spielen Leute schon, auch schon in ihrem Alltag. Menschen machen Rollenspiele, wo sie dann auch im Alltag oder über eine Woche hinweg in ihren Rollen sind, in denen sie auch beim Sex sind. Spannung und Spiel passieren. Ich glaube, das wäre so eine Richtung, das Spielen und dass auch gegenseitige Fürsorge nicht so abgetrennt ist von Sex.

Warum ist es wichtig, dass Menschen mit Behinderungen über Sex schreiben?

Weil Ihnen das Thema genauso gehört und weil gerade bei Leuten mit Behinderung immer nur über sie so viel geredet und geschrieben wird und sie selber nicht so oft zu Wort kommen. Je mehr Stimmen von betroffenen Personen es gibt, desto besser.
Fragen von
Luise Jäger
und von
Clara Porak
In Leichte Sprache von
Constanze Busch
Fotografiert von
Lucy Deverall
Lektorat
Claudia Burnar
Redaktion
Lisa Kreutzer