»Nicht das Kind ist zu viel, sondern das System ist zu wenig.«

Valerie Schmeiser kämpft sich durch ein System, das helfen soll und ihr doch oft vor allem Zeit nimmt. Was bleibt von einem Eltern-sein, wenn es so viel mehr sein muss als die Elternschaft? Eine Liebe, die nicht weniger geworden ist, nur organisierter.
Valerie hält ihren Sohn Emil in den Armen. Sie lacht und Emil berührt ihr Gesicht.

„Ich will kein anderes Kind. Aber ich will ein anderes System.“, sagt Valerie Schmeiser. In der 23. Schwangerschafts-Woche erfuhr sie, dass ihr Baby das Down-Syndrom hat. Ihren Sohn Emil brachte Valerie per Kaiserschnitt zur Welt, weil sie eine seltene Krankheit hat. Eine leichte Form des  Ehlers-Danlos-Syndroms macht ihr Binde-Gewebe sehr weich und ihre Haut und Gelenke zu dehnbar. Eine normale Geburt wäre zu gefährlich gewesen.
Nach der Geburt kam der Schock: Emil hatte Leukämie. Blutkrebs. Wenn er bis zum fünften Geburtstag keinen Rückfall bekommt, ist die Gefahr erst einmal vorbei. Heute ist Emil fast vier Jahre alt. 

Mehr Team als Paar

Valerie arbeitet als Sozial-Arbeiterin und Beraterin. Ihr Mann ist Logopäde. Zusammen haben sie vor wenigen Jahren den CARE CLUB Wien gegründet, auf Deutsch: Kümmer-Club. Eine Stelle für Eltern und Kinder mit Behinderungen. Der Club soll noch in diesem Jahr ein Verein werden, damit sie Förderungen bekommen und nicht alles selbst bezahlen müssen. Valerie sagt: „Es gibt gute Stellen. Aber niemand, der einen durch den ganzen Prozess begleitet. Darum machen wir das.“

Lukas sitzt auf der Couch und Valerie liegt mit dem Kopf auf ihn gestützt. Sie schauen freundlich in die Kamera. Darüber sitzt Emil auf einer hohen Fensterbank und schaut auf die beiden herab.
Valerie, ihr Mann Lukas und Emil

Seit Emils Geburt ist Valerie dauernd mit Anträgen, Fristen und Formularen beschäftigt. Sie hat sich ihr Wissen mühsam selbst angeeignet. Bis heute bezahlen sie und ihr Mann viele Therapien selbst. Zum Beispiel die Ergo-Therapie, die Emil helfen soll, den Alltag besser zu schaffen. Sie hilft zum Beispiel, das Anziehen, Greifen oder Schreiben besser hinzubekommen. Wenn jemand sich nicht so gut bewegen kann, übt man das zusammen in der Ergo-Therapie. Vom Staat bekommen Valerie und ihr Mann 400 Euro Kindergeld und 560 Euro Pflegegeld für Emil, das sie für seine Therapien verwenden.

Wer Hilfe braucht, muss gut verkaufen

Paartherapie zahlen sie privat. Das ist teuer. Nicht nur in Geld, sondern auch in Zeit, Energie und Kraft. Aus der seit zwölf Jahren andauernden Liebe zwischen Valerie und ihrem Mann Lukas wurde in kurzer Zeit Organisation. „Wir sind mehr Team als Paar“, sagt sie.  Eine 2024 veröffentlichte Studie der aks Kinderdienste zeigt, dass Eltern von Kindern mit in der Studie sogenannten “besonderen Bedürfnissen” stärker psychisch belastet sind und mehr Unterstützung für ihre mentale Gesundheit benötigen.

„Die Behinderung ist hier nicht das Problem“, sagt Valerie. „Emil ist wunderbar.“ Das Problem sei, dass es zu wenig staatliche Unterstützung gibt. Damit Emil Hilfe bewilligt bekommt, muss sie ihn ständig als besonders „förderwürdig“ darstellen, sie nennt es „gut verkaufen“. Das sei sehr schmerzhaft für sie als Mutter. Doch nur dann gibt es Therapien, Kindergarten-Plätze oder Geld. Derzeit ist Emil noch in einer kleinen, privat organisierten Kindergruppe.

Valerie und Emil leben in Wien. Im vergangenen Jahr beschloss die Stadt  ein neues Gesetz: Es sollte mehr Förderplätze und mehr Geld für Fachkräfte geben. Bis 2029 sind 100 Millionen Euro eingeplant. Doch es fehlt noch an Personal, Diagnosen kosten Geld, und viele Menschen haben noch Vorurteile. Über Tausend Kinder mit Behinderungen hatten 2024 in Wien keinen Kindergartenplatz. Emil ist eines davon. Valerie kündigte auch deshalb ihren Job nach Emils Geburt. Damit sie sich um ihn kümmern kann.

Valerie steht in der Küche und denkt nach. Ihr kleiner Sohn Emil schaut in einen offenen Schrank.
Valerie steht in der Küche und denkt nach. Emil schaut in einen offenen Schrank.

Beratungs-Stellen und Hilfe, die es für betroffene Familien gibt, sind das FaBI-Programm der Diakonie oder Unterstützung durch die Stadt. Aber das reicht nicht. Valerie und ihr Mann planen deshalb nur noch in „Emil-Schichten“. Wer hat wann Emil? Wer hat Zeit? Wer macht Pause? Manchmal bleibt Emil bei den Großeltern. Dann trifft Valerie ihre Freund*innen. Wenn Lukas frei hat, macht er Musik. Doch meistens geht das nicht. Valerie häkelt manchmal zuhause, eben „das, was vom Sofa aus geht“. Am meisten fehle ihr aber die Zeit für die eigene Körper-Pflege, die länger als eine kurze Dusche dauern darf.

„Ich habe mir nie gewünscht, dass Emil kein Down-Syndrom hat“, sagt Valerie. Ihr Bruder lebt auch mit Behinderungen. Ihre Mutter sagte deshalb einmal: „Wer ein Kind bekommt, muss damit rechnen, dass es auch krank oder behindert sein kann. So ist das Leben.“ Und Valerie nimmt ihr Leben an. So wie sie Emil annimmt. Auch wenn es anders kam als geplant, ist es trotzdem ganz. „Es ist trotzdem ein Kampf“, sagt sie. „Aber ich fühle mich auch ein bisschen besonders.“

„Wenn andere Eltern mehr Fragen stellen würden und ihren Kindern erklären, was Behinderung ist, das würde schon viel helfen“, sagt Valerie.

Geschrieben Von

Chiara Joos

und Von

Philipp Horak

Redaktion

Clara Porak, Lisa Kreutzer

Fotos von

Philipp Horak