»Man lernt am schnellsten durch schwierige Situationen.«

Astrid Korth hat ihren Sohn viele Jahrzehnte gepflegt. Und sich dabei nicht selbst verloren. Mit Humor und Klarheit. Und dem Willen, Räume zu schaffen, die andere noch nicht sehen.
Das Foto zeigt Astrid mit ihrem Sohn Anton. Sie sind in einem Park. Er nutzt einen Rollstuhl. Sie halten sich an den Händen und lachen aneinander an.

„Ich glaube, man lernt am schnellsten durch schwierige Situationen“, sagt Astrid, 60 Jahre alt. „Die schlimmen Dinge, die mir in meinem Leben passiert sind, haben mich am meisten weitergebracht. Etwas ins Positive zu verwandeln, ist anstrengend, aber es gibt auch sehr viel zurück.“

Ihr Sohn Anton Rieche ist heute 28 Jahre alt und lebt mit Behinderungen. Er nutzt einen Rollstuhl und hat einen Hydrocephalus, den viele Menschen auch als „Wasserkopf“ bezeichnen. Er braucht einen Katheter für das Wasser in seinem Kopf und in seiner Blase, einige Informationen kann er sich nur begrenzt merken. Alles in seinem Alltag muss durchdacht, gut geplant und möglich gemacht werden. Diese Denk-Arbeit hat über viele Jahre vor allem Astrid allein übernommen.

Nach der Geburt von Anton verlor Astrid einen Teil ihres Freundes-Kreises. Später, nach einer Krebs-Diagnose, verlor sie noch einmal einen Teil.

Astrid musste ihren Alltag an Anton anpassen. Er musste regelmäßig gepflegt, getragen, motiviert und versorgt werden. Zu Schulzeiten kam jeden Tag um 6:45 Uhr ein barrierefreier Schulbus. Das war zu früh für Antons natürlichen Schlaf-Rhythmus. Es war auch zu früh für Astrids Nerven. Anton blieb lieber im Bett und schimpfte. Einmal verpasste er den Bus, weil Astrid ihn einfach liegen ließ. Heute lachen sie darüber.

Astrid sitzt auf einem Stuhl und lacht freudig. Sie trägt eine pinke Bluse. Dahinter ist ihr Sohn Anton. Er benützt einen Rollstuhl und schaut aus einem Fenster nach draußen.
Astrid und ihr Sohn Anton

Aus eins mach zwei

Astrid fand Unterstützung bei einer Selbsthilfe-Organisation. Sie kam schon während der Schwangerschaft in die Gruppe. Mit anderen Eltern und Kindern, die ähnliche Diagnosen wie Anton hatten, reiste sie regelmäßig. Es war eine Art Inklusions-Urlaub mit Menschen, die wissen, wie es ist, jemanden zu pflegen. „Ich konnte Anton einfach mal bei jemandem lassen, ohne viel erklären zu müssen“, sagt Astrid. „Die wussten, wie man mit ihm umgeht.“ Solche Entlastung fehlt vielen anderen Eltern im Alltag. „Hier in Hamburg haben wir Glück. Deshalb bleiben wir auch hier“, sagt sie.

Astrid lebt seit Antons Kindheit von seinem Vater getrennt. Heute sieht sie das als Vorteil. Dadurch, dass sie getrennt in den Urlaub fuhren, hatte sie zwei bis drei Wochen Sommerurlaub ganz für sich allein. Die waren ihre Kraftquelle „Ich fand es gut, mein Kind auch mal nicht zu sehen“, sagt sie. In diesen Pausen konnte sie wieder Energie tanken.

„Ich war nicht nur Mutter. Ich musste für Zwei denken.“ Astrid musste ständig Entscheidungen treffen und dabei Dinge mitdenken, die andere gar nicht sehen wollten. Zum Beispiel Treppen, Türschwellen oder Toiletten ohne Haltegriffe. Orte, an denen die Gesellschaft aufhört, für Menschen, die nicht in das nicht-behinderte Bild passen. Solange Anton weniger als 30 Kilogramm wog, trug Astrid ihn selbst irgendwo hinauf. „Barrierefreiheit“, sagt sie, „darf kein Extra sein“.

In Deutschland besagt das Behinderten-Gleichstellungs-Gesetz, dass die Bundesländer dafür sorgen müssen, dass alles barrierefrei wird. Doch auch noch 20 Jahre nachdem das Gesetz beschlossen wurde, finden Astrid und Anton zu wenig Barrierefreiheit vor. Dabei ist sie das Mindeste, was Menschen wie Anton brauchen, um am Leben teilzunehmen, so wie alle anderen Menschen ohne Behinderungen.

Im Jahr 2023 wurde die Stadt Hamburg beim Access City Award für ihre Bemühungen in der Stadt gelobt, da es nun viele Rampen und zugängliche Gehwege für Rollstuhlfahrer*innen gebe. Doch nach wie vor sind weniger als eine von vier  Wohnungen in der Stadt barrierefrei zugänglich. Von über 4.500 Gebäuden sind bisher nur rund 200 auf Barrierefreiheit überprüft worden. Selbst Neubau-Gebiete werden nicht immer barrierefrei gebaut.

Studien und gesetzliche Vorgaben zeigen immer wieder, dass Menschen mit Behinderungen durch schlecht umgesetzte Gesetze daran gehindert werden, so am sozialen Leben teilzunehmen, wie alle anderen. Mehr als ein Drittel der über 80 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland können öffentliche Gebäude oder Verkehrsmittel nicht nutzen. Das stellte die Organisation Aktion Mensch in einer Untersuchung fest. Dabei hat sich Deutschland im Jahr 2009 durch die UN-Behinderten-Rechts-Konvention verpflichtet, Menschen mit Behinderung den gleichen Zugang zu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu garantieren. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern ganz praktisch. Alles andere ist ein Verstoß gegen geltendes Recht. Trotzdem ist es in der Realität oft so, dass dieses Recht nicht umgesetzt wird.

Als Anton mit zwanzig Jahren auszog, veränderte sich nicht nur sein Leben, sondern auch das von Astrid. Sie bekam die Diagnose Krebs.

In unserer Gesellschaft werden Menschen, die pflegen, oft romantisiert oder einfach übersehen. Mütter wie Astrid werden entweder still bewundert oder still verurteilt. Sie bekommen Namen wie Helikopter-Mutter, Übermutter oder Kontroll-Freak. Dabei zeigen Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), dass 62 Prozent der pflegenden Angehörigen in Deutschland sich psychisch stark belastet fühlen.

Auf dem Bild sieht man links Antons Gesicht unscharf. Er hat schwarze kurze Haare und trägt eine Brille. Dahinter auf der rechten Seite sitzt Astrid auf einem Sofa. Sie lacht mit geschlossenen Augen. Davor steht eine Vase mit Rosen.
Astrid Korth hat ihren Sohn viele Jahrzehnte gepflegt.

Besonders Mütter von Kindern mit Behinderungen. Nicht weil sie übertreiben, sondern weil sie ständig funktionieren müssen. Die Pflege-Versicherung unterstützt pflegende Angehörige zwar, aber oft reicht das nicht, um die dauerhafte Belastung zu verringern. Denn die Angebote der Pflege-Versicherung decken nicht alles ab. Sie reichen nicht aus für die emotionalen und körperlichen Anforderungen, die der Alltag von pflegenden Eltern wie Astrid mit sich bringt.

Was passiert, wenn man aufhört zu funktionieren? Astrid wollte das herausfinden. Nach der Operation, bei der ihr der Tumor mit Krebs entfernt wurde, lag sie mehrere Wochen lang auf der Couch. Das war ihre eigene Entscheidung. Zum ersten Mal seit langer Zeit musste sie nur für sich selbst sorgen. Danach zog sie eine klare Grenze zwischen dem, was vorher war, und dem, was jetzt ist.

Zurück in das eigene Leben

Heute lebt Astrid in einer anderen Wohnung in Hamburg. Diese Wohnung ist nicht barrierefrei. Ihre alte Wohnung lag im Hinterhof eines Hauses mit anderen Familien mit behinderten Kindern Diese Wohnung hat sie verkauft, nachdem Anton ausgezogen war. Dort war alles erreichbar, auch für Anton. Es war menschlich eine große Entlastung. Heute, in ihrer neuen Wohnung, muss der Rollstuhl getragen werden, wenn Anton zu Besuch kommt. „Ich denke mir oft, wenn ich andere Gebäude sehe: Haben die uns vergessen?“, sagt Astrid. Einfach mal irgendwo vorbeikommen ist nicht möglich. Es ist fast ein Bild für das Vergessen, für Ignoranz, für ein Wegschauen, das Teil des Systems ist. Dabei bedeutet Barrierefreiheit nicht nur Rampen oder Aufzüge. Es ist viel mehr als nur ein bauliches Thema.

Nach dem Auszug sprach Anton ein halbes Jahr lang kaum mit seiner Mutter. Auch das gehört zur Wahrheit. Loslassen ist ein schmerzhafter Umbau der Beziehung. Heute treffen sie sich wieder. Astrid nennt das „freiwillige Begegnungen“.

In den Jahren zu Hause bei Astrid war Anton oft depressiv. Er hatte keine Perspektive. Sie machte sich viele Gedanken um ihn. Es folgten viele Beratungs-Gespräche, viele davon waren sehr enttäuschend für Astrid und ihren Sohn Anton. Beratungs-Angebote sollen in Hamburg allerdings verbessert werden, da die Stadt eine ‚Inklusionsmetropole‘ sein möchte, um das, was die UN- Behinderten-Rechts-Konvention vorschreibt, umzusetzen. Dafür gibt es seit 2012 den ersten Aktionsplan und seit 2024 einen neuen mit 66 Maßnahmen zur besseren Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Sozial-Senatorin Melanie Schlotzhauer sagte dazu: „Teilhabe geht die ganze Stadt was an, nicht nur jeden achten Menschen mit Behinderung, der in Hamburg lebt“. Insgesamt leben in Hamburg fast zwei Millionen Menschen, mehr als 240.000 davon mit einer Behinderung.

Nach den Beratungs-Gesprächen entschieden Astrid und ihr Sohn gemeinsam, dass er ausziehen sollte. Heute lebt er in einer inklusiven Wohngemeinschaft. Zwei Menschen mit Behinderung, zwei ohne. Unterstützt durch einen Pflegedienst. Es funktioniert. Nicht wegen, sondern trotz der bestehenden Strukturen.

Was bleibt nach einem halben Leben, das man für andere lebt? Bei Astrid ist es der Humor. Sie sagt, dass sie die schlimmsten Situationen mit Lachen überstanden hat. Deshalb hat sie vor einigen Jahren eine Clownschule besucht. „Wenn ich nicht für mich selbst gesorgt hätte, wäre ich untergegangen. Ich bin keine Mutter, die nur Mutter ist.“

Auch deshalb hat sie beschlossen, die Barriere-Unfreiheit nicht einfach hinzunehmen. Gemeinsam mit Anton und einem Freund, der auch im Rollstuhl sitzt, plant sie einen barrierefreien Veranstaltungsort. Bei „Alles in Ordnung” soll es nur Rollstühle als Sitzmöbel geben, ein Podcast Studio und Räume für Vorträge und Workshops. Es soll ein Ort werden, an dem Inklusion nicht nur organisiert wird, sondern aktiv von den Menschen gestaltet wird, die sonst immer nur eingeladen werden.

„Ich habe verstanden, was es bedeutet, ganz für jemand anderen da zu sein“, sagt Astrid. „Aber nicht als Selbstaufgabe, sondern als bewusste Entscheidung. Ich stelle mich nicht mehr in den Mittelpunkt. Ich möchte, dass Anton das machen kann, was er in dieser Welt machen will.“

Geschrieben Von

Chiara Joos

und Von

Philipp Horak 

Redaktion

Lisa Kreutzer

Clara Porak

Fotos von

Philipp Horak