Hier kommst du zum zweiten Teil der Serie über Hör-Behinderung
Die Welt ist oft laut – und manchmal wird man selbst dabei leise. Ein Text über Audismus – also der Abwertung von Hör-Behinderungen – und welche Wege wir gefunden haben, damit umzugehen.
Als ich mit sechs Jahren meine Hörgeräte bekam, wurde die Welt laut. Wenn ein Stuhl neben mir zurückgeschoben wurde, lernte ich, dass er quietschte. Der Klang kam von überall her – ich brauchte meine Augen, um Geräusche zuzuordnen.
In der Volksschule dachte ich, es sei normal, dass man sich mit Mitschüler*innen über die Tische nicht verständigen konnte. Für mich waren die anderen auf eine magische Art verbunden. Woher wussten sie, welche Hefte wir auf das Pult legen sollten? Warum setzten sich alle auf den Boden? Und warum schrie die Lehrerin mich plötzlich an?
Wenn ich auf meine Schulzeit zurückblicke, sehe ich ein Mädchen, das aus dem Fenster schaut und nicht mitbekommt, dass es von der Lehrerin bereits zweimal aufgerufen wurde. Ich habe früh gelernt, den anderen alles nachzumachen – ohne zu verstehen, warum.
Auch einige von Euch haben ähnliche Erfahrungen geteilt. „Viele sehen eine Schwer-Hörigkeit nicht als Behinderung “, schreibt Selin. „Sie sagen zu mir, ich solle meine Hörgeräte doch einfach lauter stellen – nur so funktioniert das nicht.“
Hörgeräte verstärken nicht nur Sprache, sondern machen alle Umgebungs-Geräusche lauter – egal ob Stimmen, Straßenlärm oder Geschirr-Klappern. Das Gehirn muss all diese Reize gleichzeitig verarbeiten, ohne sie automatisch filtern zu können. Gerade in lauten oder unübersichtlichen Situationen kostet das viel Konzentration und Energie – und macht Hören zu einer Dauerleistung.
Selin ermüdet das alles sehr: “Ich bin es Leid, mich jedes Mal dafür entschuldigen zu müssen, wenn Personen zu leise reden und ich sie erneut um Wiederholung bitte. Ich bin es leid, mich immer rechtfertigen zu müssen, warum ich nicht alles verstehe. Ich wünschte mir, dass Schwer-Hörigkeit, Taubheit oder jede andere Form von Hör-Behinderung einfach mit mehr Verständnis begegnet wird.“
Selins Wunsch nach Verständnis kann ich gut nachvollziehen. Es ist schwierig, wenn man dabei auf kommunikative Barrieren stößt. Das heißt: nicht jede Person hat Zugang zur Sprache – zum Beispiel, wenn es keine Untertitel gibt, keine Gebärden-Sprache oder keine Rücksicht auf Menschen mit Hör-Behinderung.
Auch Mario Hahn hat Audismus oft erlebt: “Besonders in der Schule, bei Behörden oder im Krankenhaus. Manche Menschen sprechen extra laut oder gar nicht mit mir, obwohl ich erklärt habe, dass ich schwerhörig bin und klare Kommunikation brauche. Oft wird über mich gesprochen, anstatt mit mir.”
Einige von Euch haben geschildert, dass die Erwartungs-Haltung an das Hören sehr hoch ist. Das Gefühl, selbst für den Ausgleich der Behinderung verantwortlich zu sein, kann einsam machen – besonders, wenn man für die erbrachte Hör-Leistung gelobt wird. Daraus lernt man: Ich bin erst etwas wert, wenn ich mich anstrenge.
“Vögel sind ja allein schon laut”, schreibt Smilla. Sie ist schwerhörig und Orte wie die Mensa oder Bars sind oft herausfordernd. “Es ist gefühlt unwichtig, dass ich verstehe, worum es geht. Ich schaue Leuten beim Reden zu, aber bin nicht Teil davon. Das ist wirklich ironisch.”
Jo (dey/they) ist gehörlos und besuchte eine Regel-Schule anstatt eine Schule für Menschen mit Hör-Behinderungen. Das Sprechen von Lautsprache war von klein auf wichtig. Auch innerhalb der Familie wurde Jo wegen der Aussprache ausgelacht. “In meiner Familie wurde auf andere schwerhörige, gehörlose und taube Menschen herabgeblickt. Das Ziel war, dass ich möglichst wenig als hörbehindert auffalle.” Jo hatte das stark verinnerlicht und musste es im Erwachsenen-Alter wieder verlernen.
Ich bin nicht gehörlos – und doch sind mir diese Verhaltens-Weisen vertraut. Aus Angst vor der Ablehnung anderer, lehnte ich meine Schwer-Hörigkeit ab. Das bedeutet: Ich sah meine Behinderung nicht als Teil von mir. Ich dachte, je weniger es auffällt, desto mehr mögen mich die anderen. Meinen Wert definierte ich durch meine Hör-Leistung. Meine Hörgeräte zu verstecken war nicht schwer, meine Schwer-Hörigkeit hingegen schon.
Auch Ihr habt das teilweise so empfunden:
Eine Person, die anonym bleiben möchte, beschreibt das so: „Inzwischen arbeite ich daran. Dadurch ist mir vieles schmerzhaft bewusster geworden – aber viele Abwertungen und Ausgrenzungen sind normalisiert.” Normalisiert bedeutet, dass etwas so oft vorkommt, dass es normal erscheint. Obwohl das nicht so ist. Die Person erzählt, sie fühle sich oft weniger wertvoll oder schuldig, wenn Gespräche nicht gut verlaufen.
Mario Hahn erzählt, dass er sich früher auch so gut wie möglich an die hörende Welt angepasst hat. „Ich wollte ‚funktionieren‘, nicht auffallen und keine Umstände machen. Dabei habe ich mich selbst unter Druck gesetzt. Es war, als müsste ich mich ständig beweisen.“
Sich ständig zu beweisen, sind treffende Worte. Eine weitere Person, die anonym bleiben möchte, beschreibt so eine Situation: “Ich wurde mal von einem HNO-Arzt gefragt, warum ich überhaupt Matura machen will. Rasenmähen bei der Gemeinde würde doch auch gehen.” Solche Bemerkungen können sehr weh tun.
Um mich dem zu entziehen, habe ich gelernt, mich möglichst “richtig” zu verhalten. Im Kopf ging ich Gesprächs-Situationen durch und merkte mir körper-sprachliche Signale, damit ich Lücken in Gesprächen schneller deuten und korrekt ausgleichen konnte. Das verlangte viel Konzentration. Ich war sehr hart zu mir: Ich habe mich innerlich belohnt, wenn ich in Gesprächen richtig antwortete, obwohl ich nicht alles verstand.
Nach jeder Situation, die mir spiegelte, dass ich etwas falsch oder nicht mitbekommen hatte, bestrafte ich mich. Ich stellte mir vor, wie mich Hörende wahrnehmen: Als jemand, der die anderen ignorierte, der unsicher war, der zu oft „ja“ in falschen Kontexten sagte. Dass ich dumm oder unaufmerksam sei.
Wenn ich mich überanstrengte, reagierte mein Körper. Es gab Phasen, in denen ich monatelang keine Periode bekam – eine Blutung, die regelmäßig bei Menschen mit Gebärmutter passiert, wenn sie nicht schwanger sind. Ich hatte starkes Kopfweh und war rastlos. Das können Folgen von Hörstress sein.
Was ist Hörstress?
Wenn man sich ständig anstrengen muss, um zu hören, kann das schnell müde machen. Es kann zu Kopfschmerzen, Verspannungen, Reizbarkeit und Konzentrations-Problemen führen. Wenn das oft passiert und man keine guten Wege findet, damit umzugehen, kann Hörstress Folgen haben – zum Beispiel ständige Erschöpfung oder auch psychische Krankheiten wie Depressionen oder Angst-Störungen.
Im Alter von 24 Jahren kam der Punkt, an dem ich erkannte: Etwas muss sich verändern. In dieser Zeit hörte ich zum ersten Mal den Begriff “Ableismus”.
Das Wort bedeutet: Menschen mit Behinderungen oder mit chronischen Krankheiten werden oft schlechter behandelt oder weniger wertgeschätzt als Menschen ohne Behinderung. Manchmal passiert das ganz direkt – zum Beispiel, wenn jemand ausgeschlossen wird. Oft steckt Ableismus aber auch in Gedanken, Vorurteilen oder Regeln, die Menschen mit Behinderung benachteiligen.
Ich las Bücher von gehörlosen und schwerhörigen Autor*innen und folgte Accounts/Creatorinnen auf Instagram, die über diese Themen sprachen. Ich war erstaunt, dass es Menschen gab, die offen über ihre Schwer-Hörigkeit oder Gehör-Losigkeit sprachen, die auf Barrieren aufmerksam machten und für sich einstanden. All das, was ich verschleiert hatte, bekam plötzlich eine Bühne.
Als ich einen neuen Arbeitgeber hatte, kostete es mich viel Überwindung, meine Behinderung als das zu benennen, was sie ist: eine hochgradige Schwer-Hörigkeit. Nicht: „Ich höre ein bisschen weniger“ oder „Ich verstehe nicht so gut.“
Es war ein Moment, in dem ich spürte, dass etwas in mir aufriss – ein sehr verletzlicher Teil von mir an die Oberfläche kam.
In dieser Zeit habe ich viel geweint. Ich sprach mit engen Familien-Mitgliedern. Ich fragte sie: „Wie war ich als Kind? Was ist euch in Erinnerung geblieben?“ Sie sollten mir alles erzählen, was sie über das Mädchen mit den blau-gelben Hörgeräten wussten. Ich war bereit, sie kennenzulernen. Bereit, mich selbst in diesem Bild wiederzufinden.
Die Behinderung als Teil der Identität anzuerkennen kann ein langer Prozess sein. Identität bedeutet: Wer man ist und was einen ausmacht – zum Beispiel, wie man fühlt, denkt, lebt oder zu einer Gruppe gehört.
Für mich war es ein Schritt, der viel Zeit und Mut gebraucht hat. Deswegen wollte ich wissen, wie andere diesen Weg erleben.
Für Doris hat sich das so angefühlt: „Dank meiner Freunde konnte ich herausfinden, wer ich bin, und so auch meine Gehörlosen-Identität stärken. Man braucht wirklich viel Mut, um andere darauf hinzuweisen, wenn etwas nicht in Ordnung war/ist.“ Heutzutage ist sie nur mit Hörenden befreundet, die sehr gut ÖGS beherrschen.
Sie vermeidet Situationen, in denen sie als einzige gehörlose Person Gebärden-Sprache kann – weil sie das oft triggert. Das Wort ‘triggern’ bedeutet, wenn sich eine Person an eine schlimme Erfahrung erinnert. Das kann starke Gefühle auslösen – wie Wut, Traurigkeit oder Angst. Das kann passieren, auch wenn diese Person das nicht will.
Was Selin sagt, habe ich auch so empfunden: “Keiner kann Dir helfen, damit umzugehen außer Du selbst.”
Für Mario Hahn war dieser Weg nicht leicht: “Ich habe gelernt, geduldig zu sein und anderen Menschen Zeit zu geben, um meine Situation zu verstehen. Aber ehrlich gesagt: Irgendwann verliert man die Motivation, immer wieder erklären, kämpfen und sich beweisen zu müssen. Ich achte mehr auf meine eigenen Grenzen und akzeptiere, dass nicht jeder mich sofort versteht – und das ist okay.“
Dieser Prozess der Identitäts-Findung kann für jede Person unterschiedlich sein: Zugang zur eigenen Community zu finden, Gebärden-Sprache zu lernen, verdrängten Schmerz zuzulassen, Grenzen zu setzen, aber auch, sanfter mit sich selbst zu werden.
Mittlerweile versuche ich meinen Selbstwert nicht mehr an meiner Hör-Fähigkeit zu messen. Manchmal klappt es. Und manchmal nicht. Und wie Mario Hahn schreibt: Das ist okay. Dann erlaube ich mir zu sagen: „Ich muss nicht alles alleine schaffen. Ich kann Hilfe annehmen. Ich darf geliebt werden, ohne ständig Leistung zu bringen.“
Geschrieben Von
Lisa-Marie Lehner
Bilder von
Lisa-Marie Lehner
Redaktion
Clara Porak, Lisa Kreutzer
Einfache Sprache
Nikolai Prodöhl
Lektorat
Claudia Burner