4 Jahre nach der Flut

Wie geht es Menschen mit Behinderungen im Ahrtal heute?
Zwei Personen schauen mit ernsten Blick in die Kamera. Die linke Person ist eine junge Frau, sie benutzt einen Rollstuhl und trägt ein T-Shirt. Rechts daneben steht ein junger Mann. Er trägt eine Brille und hat kurze Haare.

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Vor vier Jahren starben zwölf Menschen mit Behinderungen bei einer Flut im deutschen Ahrtal. Jetzt soll der Ort sicherer und besser für die Zukunft gemacht werden. Gelingt das?

 

Dieser Text ist gemeinsam mit der Zeitung Falter entstanden.

Etwas über hundert Meter trennen das flache Gebäude der Caritas-Werkstatt vom ruhigen Wasser der Ahr. Vor vier Jahren wurde der Fluss zur Flut, trat über die Ufer, riss Häuser mit sich und tötete 135 Menschen. Viele davon waren im hohen Alter und viele lebten mit Behinderungen.

Muriel Sievers wollte danach nie wieder ans Wasser. Jetzt will sie zurück. „Runter“, wie sie sagt, zur Caritas-Werkstatt am Grünen Weg in der kleinen Stadt Sinzig. Dort hat die 31-Jährige viele Jahre gearbeitet. Bis das Wasser kam, das Gebäude über Nacht flutete und an anderer Stelle, im Lebenshilfe-Haus, zwölf ihrer Kolleg*innen und Freund*innen das Leben nahm.

Die Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 steht für einen tiefen Miss-Stand: Im Lebenshilfe-Haus war nur eine einzige Betreuungs-Kraft für 28 Menschen zuständig. Sie konnte sich mit knapper Not nur noch selbst in Sicherheit bringen. Doch die zwölf Bewohner*innen im Erdgeschoss konnten auch aufgrund ihrer Behinderungen nicht mehr flüchten. Sie ertranken in den plötzlichen Wasser-Massen.

Nach der Flut sagten Politiker*innen und Behörden: In Zukunft wollen sie Menschen mit Behinderungen besser im Katastrophen-Schutz berücksichtigen und Gebäude so bauen, dass sie dem Klima besser standhalten. Doch wie viel ist vier Jahre später davon umgesetzt? Und warum gibt es für das überflutete Lebenshilfe-Haus noch immer keinen Ersatz?

Eine junge Frau sieht mit ernstem Blick in die Kamera. Sie hat kurze braune Haare und trägt ein T-Shirt. Sie benutzt einen Rollstuhl.
Das ist Muriel Sievers

Nick Becker ist sechs Jahre jünger als Sievers, er zog später zu den Überlebenden in den Düsseldorfer Hof. Das ist ein ehemaliges Hotel, das nun als Übergangs-Wohnort für das überschwemmte Lebenshilfe-Haus dient. Er lebte noch bei seinen Eltern, als die Flut im Ahrtal wütete. 

Nick Becker ist Muriel Sievers bester Freund. „Wir kennen uns seit der Schule. Nicht wahr, Muriel?“ Das sagt er oft. Muriel Sievers antwortet selten, blickt in die Ferne. Nick Becker weiß, dass das „Ja“ bedeutet.

Insgesamt drei kleine Busse der Lebenshilfe fahren zwischen Montag und Freitag durch das Ahrtal. Sie holen morgens Bewohner*innen der Lebenshilfe-Wohnhäuser ab, bringen sie an ihre Arbeitsplätze und abends zurück. Becker faltet in der Behinderten-Werkstatt Kartons und sortiert kleine Steck- und Verbindungsteile. Er verdiene dort gerade genug, um Sievers auch mal beim Italiener einladen zu können, sagt er. Sie arbeitet an einem anderen Standort in der Montage oder am Telefon, verbindet Gespräche weiter, von einem Menschen zum nächsten.

An den Wochenenden schläft Becker bei Sievers in Sinzig. „Bei ihm gibt’s ja nix“, sagt sie. „Nur Hauptstraße, Supermarkt und Tankstelle.“ Becker könnte zu seinen Eltern. Oder Sievers zu ihm. „Aber bei mir gibt es ja nichts“, wiederholt er, „und bei Muriel, da hab’ ich meine Ruhe, nicht wahr, Muriel?“

Ein junger Mann schaut mit ernstem Blick in die Kamera. Er trägt eine Brille und kurze blonde Haare. Im Hintergrund sieht man eine Tankstelle.
Das ist Nick Becker

In der Sinziger Innenstadt sitzen sie an freien Tagen in Cafés, feiern Geburtstage im „Laguna“, essen Pizza, sprechen viel miteinander. Sie treffen Freunde und schlendern durch den Ort. Becker schiebt Muriel Sievers dann bedacht in ihrem Rollstuhl über das unebene Pflaster. Manchmal auch über die Ausdorfer-Straße, dort, wo das neue Wohnhaus der Lebenshilfe gebaut werden sollte.

Pläne für den Wieder-Aufbau

Menschen mit Behinderungen werden bei Notfällen und Katastrophen oft vergessen. Viele Warn-Systeme sind nicht barrierefrei. Es fehlt zum Beispiel an Warnungen in einfacher Sprache, gut hörbaren Sirenen oder Alarmen, die vibrieren, wenn man nicht hört. Auch Not-Unterkünfte ohne Hindernisse sind kein Standard. 

Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit Behinderungen bei Wetter-Ereignissen wie Fluten oder großer Hitze sterben, zwei- bis viermal höher. Das steht in einem Bericht der Vereinten Nationen. Und das in einer Zeit, in der extreme, also ungewöhnliche starke Ereignisse, beim Wetter häufiger und heftiger werden.

Nach der Flut gab es neue Ideen für den Wiederaufbau. In einem Bericht von Forscher*innen aus Deutschland des Projekts KAHR heißt das „Building Back Better“ – also besser und sicherer wieder aufbauen.

Wichtige Gebäude wie Förderschulen und Wohnheime sollen nicht mehr in gefährlichen Gebieten stehen. Warn-Systeme sollen für alle Menschen zugänglich sein. 

Doch wie genau etwa Menschen mit Behinderungen bei Rettungen berücksichtigt werden sollen, ist noch unklar. Ein genauer Plan, der auch Standards vorsieht, soll folgen – aber erst, wenn es mehr Geld vom deutschen Forschungs-Ministerium gibt.

Streit über das neue Wohn-Haus

Das Gelände in der Ausdorfer-Straße im Zentrum von Sinzig erfülle alle wichtigen Anforderungen für ein neues Haus, erklärt Ulrich van Bebber. Er leitet die Lebenshilfe vor Ort. Das Gelände ist weit weg vom Gewässer von Ahr und Rhein, ein anderes Wohnheim der Lebenshilfe ist ganz in der Nähe. Das bringe alle zusammen, spare Wege und erleichtere die Betreuung, „ein Vorteil für die Gemeinschaft“. Das Projekt scheiterte jedoch an einem Teil der Anwohner*innen.

In einem offenen Brief an die Stadt, den Kreis und die Lebenshilfe hieß es, der geplante Neubau sei viel zu groß und passe nicht ins Stadtbild. Auch sei er „eine Zumutung“ für die Nachbarn, „da diese schon das Altenheim und das vorhandene Haus der Lebenshilfe vor der Türe haben“.

Schon die „Altenheim-Bewohner*innen verhalten sich oft unangenehm laut durch körperliche und seelische Schmerzen, die die Nachbarn jetzt schon oft stören“. Solle die Innenstadt von Sinzig denn „ein einseitiges Zentrum einer gleichen Bevölkerungs-Gruppe“ werden? Rund 20 Personen unterzeichneten das Schreiben. Der Konflikt schlug hohe Wellen, der WDR berichtete.

Ein anderer Nachbar ist Tim Baumann. Er arbeitet als Feuerwehr-Mann und Politiker. Er schrieb in einem Brief, dass viele Menschen im Ort ganz anders denken. Die meisten hätten gute Erfahrungen mit der Lebenshilfe gemacht. Er sagt: „Die Lebenshilfe gehört seit 40 Jahren zu uns!“ Ein Platz in der Innenstadt zeigt, „dass Menschen mit Beeinträchtigung ein Teil unserer Gemeinschaft sind“.

Einige der ersten, die den Brief unterschrieben hatten, wollten später damit nichts mehr zu tun haben. Eine Anwohnerin bedauerte, den Brief unterschrieben, aber nicht gelesen zu haben. Sinzig habe, schrieb sie später, nach dem Tod der zwölf Lebenshilfe-Bewohner, „besondere Verpflichtungen gegenüber den Menschen mit Betreuungs-Bedarf.“

Die Schreiber*innen des ersten Briefes klebten später eine „Richtig-Stellung“ auf ein Garagentor. Oberhalb des Garagentors prangte ein handgemaltes Plakat: „Lebenshilfe ja, Neubau nein“. „Der würde uns die Sonne wegnehmen“, bemerkte ein Nachbar. „Die Behinderten sollen ja ein neues Haus kriegen, aber nicht hier!“ 

Am 18. Januar 2025 schwenkten deshalb rund 300 Menschen in der Ausdorfer-Straße bunt bemalte Stoffe und protestierten für den Neubau. „Ein Sinzig für alle“, riefen sie. Muriel Sievers und Nick Becker gingen auch mit. Für Becker wäre ein zentral gelegenes Wohnhaus ein Schritt zu mehr Selbstbestimmung und Lebens-Qualität. Er verliert oft die Orientierung, Bus oder Bahn fahren allein ist schwierig. „Rechts ist für mich da, wo der Daumen links ist oder auch nicht“, sagt er.

Das Bild zeigt Muriel Sievers in einem Rollstuhl. Daneben steht Nick Becker. Er hält die Griffe des Rollstuhls. Sie sehen mit ernstem Blick in die Kamera.
Muriel Sievers und Nick Becker sind sehr gut befreundet

Lebenshilfe-Chef Ulrich van Bebber verteidigte das Vorhaben lang. Man habe über zwanzig Grundstücke geprüft, das in der Ausdorfer-Straße sei das sinnvollste. Zudem habe man nach Gesprächen mit den Nachbarn die Pläne überarbeitet, das Gebäude niedriger angesetzt und die Balkone neu ausgerichtet. 

Sicherheit bedeutet mehr als neue Technik

Sicherheit erfordere nicht nur Technik, sondern auch Haltung, sagt Krisen-Forscherin Naomi Shulman. Mit dem Sicherheits-Forscher Lars Gerhold erforscht sie, was Wider-Stands-Kraft (Resilienz) neben Sirenen noch braucht. Wichtig sei dabei vor allem: Die Menschen müssen zusammenhalten und sich gegenseitig vertrauen können.

Tim Baumann, der Feuerwehr-Mann, der sich öffentlich für den Neubau im Sinzinger Zentrum aussprach, war in der Flutnacht einer der ersten, der mit einem Boot half. Durch Übungen mit Bewohner*innen der Lebenshilfe-Häuser hatte er ein Gespür dafür entwickelt, worauf es im Einsatz ankommt. 

Bei vielen Einsatz-Kräften mangelt es daran. Ein Ergebnis fehlender Strategien und Schulungen. Mancherorts wisse die Feuerwehr nicht einmal, wo Menschen mit Behinderungen wohnen, sagt eine deutsche Studie von 2024. 

Wohn-Heime als Not-Lösung

Weder in Deutschland noch in Österreich gibt es einen bundesweiten, verpflichtenden Plan für einen inklusiven Katastrophen-Schutz. Das liegt auch daran, dass der Alltag von Menschen wie Sievers und Becker abseits der Öffentlichkeit verläuft. Werktags per Fahrdienst zur Werkstatt und zurück, ohne Anbindung an die Gesellschaft.

Für echte Veränderung bräuchte es laut der Meinung von Expert*innen etwa zwei Millionen zusätzliche barrierefreie Wohnungen für Menschen mit Behinderungen und die alternde Gesellschaft. Läden, Arzt-Praxen und Busse sind für jede 40. Person unzugänglich. Wohnheime helfen für den Moment, aber sie machen ihre Bewohner*innen unsichtbar. Denn sie sind nicht in der Mitte der Gesellschaft. So bleiben Menschen mit Behinderungen oft unter sich und werden von der Gesellschaft ausgeschlossen.

Prüfer*innen der Vereinten Nationen kritisierten Deutschland und Österreich im Jahr 2023 für ihre Versäumnisse. Als Reaktion darauf und auf die Ahrtal-Flut hat Deutschland im Vorjahr ein bundesweites Projekt für inklusiven Katastrophen-Schutz gestartet. Erste Ergebnisse sollen in drei Jahren feststehen. 

Für den schnellen Wieder-Aufbau gab der Bund 30 Milliarden Euro an Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Im Ahrtal ging es aber trotzdem langsam voran – wegen viel Bürokratie und vielen Vorschriften. Damit man Hilfe bekam, musste man zum Beispiel kaputte Fenster und Fensterbänke einzeln auflisten. Viele machten es deshalb selbst, reparierten schnell und günstig. Schnell und günstig, aber oft nicht sicher vor einer neuen Flut, so wie es der KAHR-Bericht eigentlich empfiehlt.

Anderswo im Ahrtal stehen nun immerhin Häuser auf Stelzen. Brücken wurden nach Empfehlung des KAHR-Plans abgerissen, in flutsichere Höhe gebaut und Wasser-Systeme angepasst für ein Extrem, das wiederkommen kann.

Drei Jahre nach der Flut, im April 2024, wurde das letzte Ermittlungs-Verfahren zum Tod der zwölf Menschen im Lebenshilfe-Haus beendet. Die Staats-Anwaltschaft Koblenz meinte, man könne nicht sicher sagen, dass eine Rettung möglich gewesen wäre. Deshalb könne man keiner Person konkret die Schuld geben. Die Angehörigen haben dagegen Beschwerde eingelegt.

Auch die politische Debatte ist noch nicht abgeschlossen: Der rheinland-pfälzische Untersuchungs-Ausschuss hat seinen Abschluss-Bericht vorgelegt. Im September wollen Politiker*innen darüber diskutieren.

Van Bebber und die Lebenshilfe entschieden sich im vergangenen Mai gegen einen Neubau in der gespaltenen Ausdorfer-Straße. Die Alternative, ein bereits gekauftes Grundstück, liegt nur 160 Meter weiter neben einem Alten-Heim. Es ist aber „deutlich teurer“, sagt der Lebenshilfe-Chef. Bis 2028 soll gebaut werden, dann können Becker und die ehemaligen Überlebenden einziehen. 

„Die Suche nach einem geeigneten Grundstück war schwieriger, als wir es je für möglich gehalten hätten“, stellte van Bebber fest. Sievers sagt: „Wir finden es gut, dass die endlich mal mit dem Bauen anfangen können.“ 

Auch die Caritas-Werkstatt in Sinzig probiert, ein guter und nachhaltiger Ort für Menschen mit Behinderung zu sein. Die Werkstatt liegt unten am Fluss, kurz bevor die Ahr in den Rhein fließt. Früher hat Sievers dort gearbeitet. Man sieht noch Spuren von der Flut: Braune Linien an den Wänden zeigen, wie hoch das Wasser stand.

Anstatt neue Gebäude zu bauen, hat man die alten Gebäude repariert. Das war günstiger. Ein neues Warn-System achtet auf den Wasserstand. Es nutzt Apps, die den Pegel messen, und warnt früh – noch bevor Sirenen losgehen.

Sievers und Becker leben schon ihr ganzes Leben lang an einem gefährlichen Ort – nah am Fluss und am Rand der Gesellschaft. Erst seit die Ahr ihr Bett verließ und Leben nahm, tauchten sie in Sicherheits-Konzepten und öffentlicher Wahrnehmung auf. 

Das Foto zeigt ein offenes Tagebuch, das auf einem Schreibtisch liegt. In der linken Ecke sitzt eine junge Frau.
Ein Ausschnitt aus Muriel Sievers Tagebuch

Sievers hat ihren Schmerz auf über 300 Seiten aufgeschrieben. In ihren Geschichten trinkt sie Sternen-Staub mit den Verstorbenen, sitzt mit ihnen auf dem Balkon, redet über das, was die Flut zerbrach: „Es ist und bleibt für uns alle ein Rätsel, wieso das passieren konnte. Wir alle müssen mit den schweren Folgen der Flut klar kommen, vor allem die, die das Drama überlebt haben.“ Für sie ist klar: Man hat sie und ihre Freunde im Stich gelassen. Und das darf nicht wieder passieren. 

Geschrieben Von

Chiara Joos

Bilder von

Nirén Mahajan

Redaktion

Lisa Kreutzer und Gerlinde Pölsler