In Österreich fürchtet man sich am meisten vor einem Überfall auf der Straße. Das gaben 66 Prozent der Befragten 2019 bei einer Online-Umfrage zu Kriminalität an. An zweiter Stelle steht Angst vor einem Einbruch, an dritter Stelle Angst vor Sexuellem Missbrauch. Aber es gibt noch viel mehr Ängste. Und nochmal viel mehr Leute, die mit Ängsten leben. Gesprochen wird selten darüber. Für dieses Audio Feature haben die andererseits-Redakteurinnen Luise Jäger, Lisa Steiner und Katharina Kropshofer sich genauer mit der Angst auseinandergesetzt. Diesem Gefühl, das wir alle kennen und das für andere meist trotzdem unsichtbar ist.

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Transkript der Sendung zum Nachlesen:

ANGST

Über die Macht eines unsichtbaren Gefühls 

Ein Audiofeature von Luise Jäger, Katharina Kropshofer und Lisa Steiner

Sarah

Wenn ich den Menschen erzähle, dass ich Angst vor Erbrechen habe, dann (…) denken sie vielleicht an Magen Darm Grippe, aber sie denken nicht dran, dass ich nicht Achterbahn fahren kann oder dass ich nicht Autofahren kann und dass ich in meinem ganzen Leben noch nie ein Tiramisu gegessen habe. 

Godemann

Also die Menschen haben ganz sicher ein unterschiedliches Level, eine unterschiedliche Grundangst. Das auf jeden Fall. Aber zu sagen, ob das schon mit der Geburt besteht oder ob das eigentlich auf der Basis unterschiedlicher biografischer Erfahrungen sich entwickelt, das kann keiner differenzieren, keiner unterscheiden. 

ANGST: Über die Macht eines unsichtbaren Gefühls 

Ein andererseits-Radio-Feature von Luise Jäger, Katharina Kropshofer und Lisa Steiner

Angsttour

Rocco: Vielleicht zur Beruhigung von uns allen eine kleine musikalische Ode an die Angst

Musik

Rocco: Die Angst des Sängers anzufangen mit der ersten Strophe 

Musik

Rocco & Brigitte: Es gibt Millionen von Ängsten, Ängsten, Ängsten 

Angst vor Weiten und Angst im Engsten, Engsten, Engsten

Angst zu viel zu schwitzen und vor schlechten Witzen, Witzen, Witzen 

aber am schlimmsten ist die Angst vor der Angst, Angst, Angst 

(ab hier ausfaden)

Lisa Steiner (andererseits)

Wart ihr schonmal auf einer Angsttour? Oder könnt ihr euch überhaupt etwas darunter vorstellen? Wenn ihr euch jetzt denkt: “Was bitte soll das überhaupt sein?”, dann geht es euch ähnlich wie meinen Kolleginnen Luise und Kathi. 

Hallo, ich bin Lisa und gemeinsam mit den beiden habe ich mir Gedanken über die Angst gemacht. Dieses Gefühl, das wir alle kennen und das für andere trotzdem unsichtbar ist. Manche von uns teilen es nie mit anderen. 

Angsttour

Brigitte: Herzlich Willkommen bei unserer Angsttour, 

Rocco: oder wie wir auch sagen: Der Tour de “fear”

Brigitte:  Und jetzt wäre der Zeitpunkt, wo sie wirklich ehrlich zu sich selbst und zu uns sind, und aufschreiben ihre größte Angst: Also Angst vor Kündigung oder Angst verlassen zu werden, oder Angst vorm Sterben oder…

Rocco: Ich habe zum Beispiel Angst, in ein Schaufenster zu fallen, deswegen Shopping geht gar nicht, Angst vor nackten Füßen, das ist bei mir ganz oben. 

Lisa Steiner (andererseits)

Die Angsttour ist eine Stadtführung durch Wien zum Thema Angst. Die Tourguides Rocco und Brigitte haben dafür einen ungewöhnlichen Zugang zu dem Gefühl gewählt: Humor. Clown Rocco, zum Beispiel, ist ängstlich. Seeeeehr ängstlich. Er erschreckt sich vor nackten Füßen, kriegt schon nur beim Blick auf einen künstlichen Mini-See fast einen Herzinfarkt. Und das kann wirklich sehr witzig sein. Die Menschen, die die Tour gebucht haben, lachen jedenfalls herzhaft – obwohl viele von ihnen mit Ängsten leben. Manche mit Ängsten, die so stark sind, dass es ihren Alltag beeinflusst.

Österreicherinnen und Österreicher fürchten sich am meisten vor einem Überfall auf der Straße. Das gaben 66 Prozent der Befragten 2019 bei einer Online-Umfrage zu Kriminalität an. An zweiter Stelle steht Angst vor einem Einbruch, an dritter Stelle Angst vor Sexuellem Missbrauch. Aber es gibt noch viel mehr Ängste. Und nochmal viel mehr Leute, die mit Ängsten leben. Zum Beispiel Sarah.

Sarah

Also, ich bin Sarah. Ich bin 29 Jahre alt. Ich arbeite für den Verein gegen Tierfabriken und habe Emetophobie, das heißt die Angst, sich zu übergeben. Und ich glaube, es betrifft sehr viele Aspekte des Lebens, an die die meisten Menschen irgendwie nicht denken.

Lisa Steiner (andererseits)

Panik, Schwindelgefühle, schwitzige Hände, manchmal auch der Zwang, sich ständig die Hände zu waschen oder alles zu desinfizieren: So fühlt sich Sarah ganz oft. All das sind nämlich Symptome ihrer Angststörung, Emetophobie. So heißt die Angst davor, dass man selbst erbrechen muss, oder anderen dabei zusehen muss. Phobie bedeutet: krankhafte Angst. Und das haben mehr Menschen als man denkt: Bei neun Prozent der Bevölkerung ist die Angst vor dem Erbrechen laut Phobien-Zentrum Wien übermäßig stark ausgeprägt. Vor allem bei Frauen. Obwohl es so viele betrifft, wissen die wenigsten davon. Auch Sarah war mit ihrer Angst oft alleine.

Sarah

Ich glaub so am meisten ist es mir aufgefallen, wie alle angefangen haben fortzugehen, weil ich kann halt nicht mehr als höchstens zwei Getränke trinken, weil dann schon meine Grenze an Panik erreicht ist, wo ich mir dann denke, das ist zu viel und dann übergebe ich mich.(…) Aber ich habe schon immer Tiramisu oder Sushi oder so, da bin ich immer schon aus dem Weg gegangen, auch wenn ich damals noch nicht so ganz wusste, warum. 

Lisa Steiner (andererseits)

Sarah isst nur das, was sie kennt, trinkt höchstens ein, zwei alkoholische Getränke. Auch auf Urlaub zu fahren wäre schwierig für sie. 

Sarah

Wenn ich den Menschen erzähle, dass ich Angst vor Erbrechen habe, dann (…) denken sie vielleicht an Magen Darm Grippe, aber sie denken nicht dran, dass ich nicht Achterbahn fahren kann oder dass ich nicht Autofahren kann und dass ich in meinem ganzen Leben noch nie ein Tiramisu gegessen habe. 

Lisa Steiner (andererseits)

Das letzte Mal hat sich Sarah übergeben, als sie ein Kind war. Sie hatte eine Lebensmittelvergiftung. Ihre Mutter meinte, sie solle sich nicht so anstellen, fast genervt war sie. Ihr Vater hingegen wurde richtig panisch, konnte nicht mitansehen, wie schlecht sich seine Tochter fühlte. Für Sarah war das sehr verwirrend. Heute glaubt sie, dass es ein möglicher Grund ist, wieso sie die übermäßige Angst vor dem Erbrechen entwickelte. Über die Sachen, die ihre Angstgefühle heute auslösen, weiß sie gut bescheid:

Sarah

Also ein Trigger ist ein Auslöser, würde ich mal übersetzen. Und ich kriege eine Panikattacke, je nachdem wie stark es ist. Wenn es halt nur so eben so was ist wie jemand übergibt sich auf einer Party, dann fange ich halt zu zittern an und mein Herz schlägt schnell und ich kriege Kopfweh und mir wird schwindlig. Und wenn ich halt wirklich nicht weiß oder mir einer sagt, wir haben uns gestern getroffen und heute hab ich Magen-Darm-Virus, dann ist es wirklich eine Panikattacke. Und da brauche ich dann wirklich lang, um wieder runterzukommen, weil ich halt meinem Gehirn auch nicht logisch sagen kann, dass ich jetzt nicht angesteckt bin.

Lisa Steiner (andererseits)

Frank Godemann kennt die Reaktionen, die Sarah beschreibt, von seinen Patienten und Patientinnen. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin und hat sich auf Angst- und Zwangsstörungen spezialisiert. Er weiß auch, dass man hier unterscheiden muss: 

Godemann

Im Deutschen ist es ähnlich wie im englischsprachigen Raum. Da würde man quasi zwischen Angst und Furcht unterscheiden. Und das heißt: wenn ich eine Behinderung habe und sage, möglicherweise kann ich das, was ich mir wünsche, nicht umsetzen, dann habe ich die Furcht davor. Dann würde man diesen Begriff benutzen. Angst per se impliziert oder beinhaltet immer ein Stückchen nicht vollständig rational nachvollziehbar.

Lisa Steiner (andererseits)

So wie bei Sarah. Sie sagt auch, dass sie Angst vor etwas hat, das eigentlich nichts Schlimmes ist. Oder wenn jemand Angst vor dem Fliegen hat. Auch wenn beim Autofahren viel häufiger Unfälle passieren. Oder wenn man so wie Rocco, der Clown von unserer Tour, Angst vor so ziemlich allem hat, was einem im Leben begegnet. 

Es gibt keinen Menschen ohne Angst. Aber wird die Angst zu groß, kann sie zu einer Störung werden. Wenn sie etwa Panik auslöst, wie bei Sarah. Oder wenn man Angst vor ganz bestimmten Situationen oder Dingen hat: bei Agoraphobie, zum Beispiel, Angst vor Plätzen mit vielen Menschen. 

Weltweit leiden 4,8 Prozent aller Frauen an einer “echten” Angststörung und 3 Prozent der Männer. Also ist es neben Depression die häufigste psychische Erkrankung. Expertinnen und Experten schätzen, dass in Österreich 16 Prozent der Menschen an einer behandlungsbedürftigen Angstkrankheit leiden. Und je umfangreicher diese Ängste werden, desto schwieriger wird auch die Behandlung, weiß Frank Godemann: 

Godemann

Wenn eine spezifische Angst vor allem in der U-Bahn auftritt. Weil die Sorge ist, nicht rechtzeitig rauszukommen, weil man einen Herzinfarkt bekommen könnte (…)  ist relativ gut zu behandeln. Wenn quasi eine Angst, eine Furcht nach der anderen, die Sorge, eben in einen Krieg verwickelt werden zu können, dass den eigenen Kindern auf dem Weg zur Schule etwas passieren könnte, und und und. Und wenn so viele parallele Ängste bestehen, manchmal gar nicht so präzise ausformuliert, wie ich es jetzt tue, dann ist es schwerer zu behandeln. 

Lisa Steiner (andererseits)

Hat jemand eine sehr intensive Angst, kann ihn das im Leben einschränken. Das ist für Godemann ähnlich wie eine Behinderung. 

Godemann

Also die Menschen haben ganz sicher ein unterschiedliches Level, eine unterschiedliche Grundangst. Das auf jeden Fall. Aber zu sagen, ob das schon mit der Geburt besteht oder ob das eigentlich auf der Basis unterschiedlicher biografischer Erfahrungen sich entwickelt, das kann keiner differenzieren, keiner unterscheiden. 

Lisa Steiner (andererseits)

Andersherum können Menschen, die eine Behinderung haben, spezifische Ängste entwickeln: Zum Beispiel, wenn sie das Gefühl haben, anders zu sein, nicht dazuzugehören. Wer im Rollstuhl sitzt, kann als Kind oft nicht an den gleichen Spielen teilnehmen. Kinder mit Lernschwierigkeiten werden oft ausgeschlossen. 

Und auch wenn es manchmal zu viel wird: Ängste haben auch positive Seiten. Sie schützen uns vor unbekannten oder ungeheuren Dingen. 

Angsttour

Brigitte: Aber ich muss euch folgendes verraten: wenn es die Angst nicht geben tät, (…) würde es die Menschheit nicht geben. Wir wären ausgestorben, niemand von uns wäre da (…) alle wären tot. Warum? Weil wir taten ständig Sachen machen, die ma nicht machen soll: Bungeejumpen machen ohne Seil, wir taten ständig Sex haben mit jedem, wir taten Flugzeuge kidnappen und überall hinfliegen, wir würden vielleicht Fußball spielen mit Fremden und dabei stolpern und den Kopf anhauen und ins Krankenhaus kommen und dort versterben. Es würden ständig Sachen passieren, die einfach ganz schrecklich sind. 

Lisa Steiner (andererseits)

Man nennt das evolutionäres Erbe. Es hilft uns, Gefahren aus dem Weg zu gehen und somit länger zu überleben. Das weiß auch der Psychiater Frank Godemann:

Godemann

Ob es jetzt der Ukrainekrieg ist mit der Befürchtung, dass es sich ausweitet zu einem Weltkrieg. Oder unter Coronabedingungen die Befürchtung quasi selber schwerst zu erkranken und daran zu versterben. Daran sieht man auch, dass manchmal die Grenze zwischen Befürchtungen und Realängsten auch fließend sind. Das sind hier zwei sehr aktuelle historische Beispiele, in denen Angst eine große Rolle spielt und sozial bedeutsam ist. Weil es an den Stellen – und das ist wahrscheinlich eine sehr relevante Funktion von Ängsten, dass es Handlungsimpulse auslöst, irgendwas zu tun, sich zu schützen. Sich zu informieren – auch das ist ein Handlungsimpuls: sich zurückzuziehen. 

Lisa Steiner (andererseits)

Ein Beispiel: Wenn unsere Vorfahren in Afrika auf eine Schlange trafen, wussten sie meistens nicht, ob diese giftig ist. Deshalb reagierten sie instinktiv immer so, als ob die Schlange giftig wäre – mit Angst. Besser einmal “unnötig” gefürchtet vor einer ungiftigen Schlange als umgekehrt. Eine sinnvolle Risikoabschätzung um zu Überleben.

Im Körper bereitet Angst unsere Muskulatur vor, um sich zu verteidigen oder fliehen zu können. Das passiert auch, wenn wir wissen, dass wir eigentlich keine Angst haben brauchen. Der biologische Prozess im Körper und im Gehirn findet trotzdem statt.

Godemann

Es gibt natürlich viele reale Gefahren, vor allem im Sinne von Befürchtungen. Es gibt die berechtigte Befürchtung, in Berlin keine Wohnung zu bekommen und in eine prekäre Situation zu geraten. Und trotzdem ist es so, dass selbst dann ich in aller Regel nicht derjenige bin oder diejenige, die die Chance haben, wie viel Macht ich dieser Frage gebe innerlich. Kernpunkt ist: wie kann ich fördern, dass ich Befürchtungen, Ängsten, die mir versucht werden zu vermitteln,  nicht so viel Macht einräume. 

Lisa Steiner (andererseits)

Denn Ängste sind auch sehr oft politisch. Politikerinnen und Politiker können andere stärken, damit sie manche Ängste nicht mehr haben müssen. Ängste spiegeln nämlich auch unsere Gesellschaft wider, die Schwachstellen eines Sozialstaats zum Beispiel oder die momentane Situation mit mehr Armut, einem Krieg in Europa und einer immer schlimmer werdenden Klimakrise. 

Aber auch der Umgang mit Ängsten, zeigt, wie es um unsere Gesellschaft bestellt ist. Vielleicht sollten wir mehr über unsere Ängste reden, statt andere sofort zu verurteilen? Sarah hat gute Erfahrungen damit gemacht.  

Sarah

Ich bin in einer guten Umgebung, dass die Menschen, denen es auch wichtig ist, das wissen, deswegen… Ich bin noch nie wem begegnet, der das jetzt irgendwie schlimm fand (…) Und es sagen mir jetzt auch alle immer schon vorher, wenn es ihnen schlecht geht, damit sie halt schon vorher wissen, dass es mir dann dadurch nicht schlechter geht und so, also es funktioniert ganz gut und Außenstehende kriegen es ja nicht mit. 

Lisa Steiner (andererseits)

Letztens, im Fasching, da hat sie sogar einer Freundin geholfen, die sich übergeben musste, erzählt Sarah stolz. Und wer weiß, vielleicht erfüllt sich ja bald auch ein weiterer ihrer Wünsche: 

Sarah

Es ist ein blöder Wunsch, aber ich wäre halt wirklich gern mal betrunken. Also wirklich gern. Ich würde so gern wissen, wie das ist. Ich würde auch gern mal in Ruhe in Urlaub fahren und so. Also ist es jetzt nicht mehr so schlimm, wie es mal war. Aber es gibt halt schon Sachen, die ohne viel schöner wären.  

Bildbeschreibung

Die Zeichnungen stehen für Ängste, die die Menschen mit sich tragen:

1.Das Treppensteigen wofür man ein Geländer braucht ohne dem es nicht so gut geht

2. die Gewitterwolken wenn es blitzt und donnert

3. Für das zusammengeschnürt sein wenn man sich was nicht traut

4. Für etwas an das man nicht nicht denken/nicht ignorieren kann weil es so groß und rot ist

Graphik: Moritz Wildberger, Luise Jäger

Redaktion: Lisa Kreutzer

Lektorat: Claudia Burnar