Text: Leonie Schüler, Fotos: Marie Haefner

Im Sommer 2012 verliebte ich mich. Wir waren Freunde und verbrachten viel Zeit miteinander. Er beeindruckte mich sehr. Er ist ein sehr humorvoller Mensch und hat ein absolutes Gehör. Das bedeutet, dass er unterschiedliche Töne genau bestimmen kann. Ich freute mich immer darüber, wenn er mir auf dem Klavier etwas vorspielte.

Was ich aber anfangs noch nicht wusste: Er wollte eigentlich keine intimen Berührungen. Wir waren eineinhalb Jahre ein Paar. Ich hatte oft das Gefühl, er denkt, dass ich nicht intim sein kann, weil ich im Rollstuhl sitze. Möglicherweise vermutete er, ich würde Sex deshalb auch nicht mögen, oder gar nichts empfinden. Möglicherweise war er gerade deshalb an mir interessiert. Weil es dadurch nicht zum Problem wird, dass er nicht intim werden will. Aber ich sprach immer offen über meine Lust auf Sexualität.

Viele Menschen verbinden unterbewusst mit meiner Behinderung und meinem Rollstuhl Asexualität. Diese Vermutung ist falsch.

Menschen mit Behinderungen haben genauso Lust auf Sex, wie andere Menschen. Aber meine Lust wird mir abgesprochen: Ich frage Spezialist*innen offensiv nach Hilfe und bekomme keine. Ich bin bereit für Sex zu zahlen, aber auch da werde ich behandelt, als wäre ich kein sexuelles Wesen.

Dabei ist sexuelle Selbst-Bestimmung ein Menschen-Recht. Menschen mit Behinderungen möchten Sex. Manche mehr, manche weniger. Aber wir werden immer noch so behandelt, als könnten wir keinen Sex wollen. Das stimmt nicht.

Bei mir ist es sogar so, dass meine Behinderung meine Lust noch verstärkt. Im Juni 2022 kam es für mich zu dieser Offenbarung. Draußen war es bereits dunkel und ich saß wie jeden Abend alleine vor dem Fernseher. In der Netflix – Serie The Goop Lab erklärte Gwyneth Paltrow, wie weibliche Lust verstärkt wird: durch Muskel-Kontraktionen. Also dadurch, dass sich Muskeln zusammenziehen und verkürzen. Meine Beeinträchtigung sorgt von Natur aus zu kurzzeitigen Verspannungen der Muskeln. Das verstärkt meine Lust.

Leonie Schüler sitzt in ihrem Rollstuhl. Sie schaut nach links. Sie trägt einen schwarzen Spitzen-Body und pinken Lippenstift.

Ich saß vor dem Fernseher und weinte. Es dauerte, bis ich diese Erkenntnis verarbeitet hatte. Ich lebe mit Infantiler Cerebralparese, einer bleibenden Störung des Bewegungs-Ablaufs seit der Geburt. Weil meine Muskelspannung so hoch ist, ist auch meine Lust verstärkt.  Viele glauben, dass ich keinen Sex will. Oder dass ich mit meinem Rollstuhl gar keinen Sex haben kann.

Nach meiner Beziehung habe ich es immer wieder mit Online-Dating probiert, über sechs Jahre lang. Erfolglos. Ich traf immer wieder auf Menschen, die Zeit mit mir verbringen wollen, aber keinen intimen Kontakt. Um das zu vermeiden, schrieb ich meine Vorstellungen von meiner Sexualität sogar in mein Tinder-Profil. Ich schrieb, dass ich als sexuelles Wesen wahrgenommen werden möchte. Es half nicht. Ich traf nur auf Menschen die kein Interesse an Sex mit mir hatten oder glaubten, ich könne gar keinen Sex haben.

Aber ein regelmäßiger Orgasmus hilft mir, wie den meisten anderen Menschen, mich besser zu fühlen. Er führt bei mir dazu, dass sich die Spannung der Muskeln im Körper normalisiert. Er ist bis jetzt die einzige Methode, die bei mir gegen die erhöhte Muskelspannung hilft. Dadurch werde ich entspannter und kann meinen Körper besser verwenden.

Statt mit einem Mann habe ich mit meinem Vibrator zum ersten Mal erfahren, was sexuelle Selbst-Bestimmung bedeutet. Mein Vibrator kam mit einer Fernbedienung und war somit für mich barrierefrei zu bedienen. Mithilfe meines Vibrators empfand ich Befriedigung.

Meine Sexualität wirklich selbstbestimmt zu leben, das ist mir bisher aber nicht gelungen. Überall gibt es Barrieren. Sogar Selbst-Befriedigung ist nicht hürdenlos. Einmal wollte ich, dass mir der Nachtdienst ins Bett hilft. Aber ich musste eine Stunde warten. Es gab einen Notfall. Natürlich haben Notfälle und Menschenleben Vorrang, aber trotzdem war ich wütend. Ich war schon wieder eingeschränkt.

Für eine Zeit war mein Vibrator trotzdem eine gute Lösung. Aber: Mir wurde mit der Zeit bewusst, dass mir der selbstbestimmte intime Körperkontakt fehlt. Ich wollte mehr.

Die Aufnahme zeigt Leonies Hand. Sie trägt zwei Armbänder.

Ich kontaktierte einen Sexualbegleiter. Sexualbegleiter*innen sind Menschen, die Menschen mit Beeinträchtigung dabei helfen sollen, ihren Weg mit der eigenen Sexualität zu finden.

Er hieß Manuel. Wir vereinbarten einen Termin, um uns kennenzulernen. Ich hatte große Erwartungen und war aufgeregt. Doch bei mir zuhause tauchte ein kleiner, rundlicher, unsicherer Mann auf und erklärte mir, dass ich seine allererste Kundin überhaupt sei. Das entsprach überhaupt nicht meiner Vorstellung. Gerade als absolute Beginnerin wünschte ich mir jemanden mit Erfahrung. Ich bat ihn zu gehen, und zum Glück rechnete er nur die Fahrtkosten ab. Schade, denn ich hatte mir für diesen Tag extra ein neues Kleid gekauft.

Ein paar Monate später folgte mein zweiter Versuch. Sein Name war Oliver. Er war groß, hatte lange, graue Haare und eine Brille. Er versprach mir eine sinnliche Massage. Dabei habe ich aber meine Kleidung anlassen. Die Massage hatte keine intime Berührung. Er sagte mir, es würde auch nur intimer Kontakt zu Stande kommen, wenn eine längere zwischenmenschliche Beziehung entstehen würde. Welcher Sexarbeiter bietet Sex nur nach einem langen Kennenlernen an? Würden Sexarbeiter*innen so auch bei Menschen ohne Behinderungen vorgehen?

Zum Schluss rechnete er 150 Euro ab, da ich ihn für eine Stunde gebucht hatte. 150 Euro sind sehr viel Geld für mich. So geht es vielen Menschen mit Behinderungen: Laut Deutschem Gewerkschaftsbund sind Menschen mit Behinderungen einem größeren Armutsrisiko ausgesetzt, da sie weniger Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Mir war klar: Ich zahle nicht nochmal 150 Euro. Nur damit in Zukunft vielleicht irgendwann mal etwas entsteht.

In der Zwischenzeit suchte ich eine Sexualpädagogin auf, die mir von meiner Frauenärztin empfohlen wurde. Ihr Beratungsgespräch zielte ausschließlich auf Selbstbefriedigung ab. Sie konnte sich wohl nicht vorstellen, dass ich für Sex eine andere Person finde.

Die Aufnahme zeigt Leonie Schülers linke Schulter und die Hälfte ihres Gesichtes. Sie trägt einen schwarzen Spitzen-Body und pinken Lippenstift.

Das ist auch der Grund, warum ich mich entschieden habe, über meine Sexualität zu schreiben. Eigentlich habe ich das Recht, meine Sexualität selbstbestimmt leben zu können. Das fordert nicht nur das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,sondern auch Art. 25 A der UN – Behindertenrechts-Konvention und die Weltgesundheits-Organisation.

Sexuelle Selbst-Bestimmung ist Menschenrecht. Aber ich verliere immer wieder den Glauben daran, dass ich es schaffen würde, als Frau mit Beeinträchtigung in meinem eigenen Leben sexuell unabhängig und eigenständig zu sein.

Wegen meiner Beeinträchtigung werde ich mein Leben lang auf Unterstützung angewiesen sein. In meiner Wohnung in Frankfurt ist ein ambulanter Pflegedienst integriert. Hier bekomme ich genau dann Hilfe, wenn ich sie brauche. Sonst wohne ich alleine in meiner Wohnung.

Aber in den letzten fünf Jahren kommen immer mehr Pflege-Schüler*innen zu mir. Ich kann mir nicht mehr aussuchen, wer meine Wohnung betritt. Die Auszubildenden kommen mit den Pfleger*innen mit. Sie schauen zu und lernen, wie man pflegt.

Ich darf mir nicht aussuchen, wer mich berührt. Manchmal stellen sie sich nicht mal vor. Fremde Menschen fassen mich einfach an. Ich kann nicht selbst entscheiden, von wem ich entkleidet werde oder wer mir beim Duschen hilft. All diese Alltags-Situationen, teile ich mit Menschen, zu denen ich keine intime Verbindung habe. Deshalb denke ich viel über sexuelle Fremd-Bestimmung nach.

Ich möchte nicht von Menschen gepflegt werden, die jünger oder gleich alt sind wie ich. Wenn ich als Hetero-Frau unter der Dusche von einem attraktiven Mann an intimen Stellen berührt werde, ist es logisch, dass sexuelle Empfindung nicht ausbleibt. Das möchte ich nicht.

Aber der Personal-Mangel in der Pflege macht das unmöglich. In Deutschland fehlen laut Pflegebox.de 120.000 Pflegekräfte.In Österreich sind es laut Arbeiterkammer Wien 75.000 fehlende Pflegekräfte.

Die Frage, wie und ob ich selbstbestimmt meine Sexualität leben kann, wurde mit den Jahren immer größer. Sie betrifft so viele Teile meines Lebens. Ein Mensch ohne Hilfebedarf muss sich über so etwas überhaupt keine Gedanken machen.

Seit meiner ersten Beziehung hatte ich keinen Partner mehr. Mit einem zukünftigen Freund wünsche ich mir eine langfristige Partnerschaft mit Sex. Also möchte ich einen Mann finden, der keine Angst vor mir oder meinem Körper hat. Denn Sexualität von Menschen mit Behinderungen ist bis heute nicht selbstverständlich. Meine Sexualität ist ein Tabu-Thema.

Text von Leonie Schüler

Unterstützt von Lisa Kreutzer

Fotos von Marie Haefner

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