Die letzte Entscheidung

Nikola Göttling hat sich für selbstbestimmtes Sterben entschieden. Das ist seit 2022 in Österreich erlaubt. Doch das Gesetz ist umstritten und könnte noch diesen Sommer angepasst werden.
Eine Aquarell-Zeichnung mit verschwommenen blau-gelben Farben im Hintergrund. Im Vordergrund ist eine gezeichnete Hand in schwarz-weiss zu sehen, in der ein Fläschchen und eine Spritze liegen.

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Nikola Göttling hat seit zwei Jahren ein Medikament zu Hause. Für die 54-Jährige mit grauen, kurzen Haaren ist es das wichtigste Medikament ihres Lebens. Viele Menschen sind der Meinung: Niemand sollte es besitzen. Denn das Medikament heilt Göttling nicht. Es wird ihr helfen zu sterben. 

Das Medikament heißt Natrium-Pentobarbital. Hauptsächlich verwenden es Tierärzt*innen. Sie schläfern damit Tiere ein, die zu krank sind, um weiterzuleben.

Wenn Göttling sich entscheidet, es zu nehmen, wird sie einschlafen. Dann wird ihre Atmung langsam aussetzen. Sie wird die Augen hinter ihrer Brille schließen und nicht mehr aufwachen. Göttling wird das Medikament freiwillig nehmen, aber mit Hilfe. Sie wird assistierten Suizid begehen – wie sie hofft legal, also gesetzlich erlaubt. 

 

Göttling hat Multiple Sklerose. Das ist eine nicht heilbare Krankheit. Sie möchte selbst entscheiden, wie lange sie mit dieser Krankheit lebt.

Im Jahr 1999 bemerkte sie erste Symptome, 2003 bekam sie die Diagnose. Zuerst wollte sie es nicht wahrhaben, erzählt sie. Sie machte Diäten und nahm homöopathische Mittel. Das alles half nicht, die Krankheit schreitet voran. Bei vielen Betroffenen kann das dazu führen, dass sie im Endstadium im Bett liegen und weder Harn noch Stuhl bei sich behalten.

 

So geht es Göttling, als andererseits im April 2024 zum ersten Mal mit ihr Kontakt aufnimmt. Lange Zeit sah es so aus, als könnte sie gut mit ihrer Krankheit leben. „Sonst hätte ich kurz nach meiner Diagnose auch meine Tochter nicht bekommen“, sagt sie. Die wirklich unangenehmen Symptome bekam Göttling erst seit 2008. Danach wurde es nach und nach schlechter. Deshalb hat sie das Recht, eine Sterbe-Verfügung in Anspruch zu nehmen.

 

Das ist in Österreich seit dem 1. Januar 2022 möglich. Da trat das neue Gesetz zur Sterbehilfe in Kraft. Es heißt Sterbe-Verfügungs-Gesetz.

Seitdem können Menschen in bestimmten Fällen, wie einer tödlichen Krankheit oder wenn ihre Lebens-Qualität nach und nach durch eine Erkrankung immer schlechter wird, eine Sterbe-Verfügung machen. Sie können bestimmen, dass sie nicht mehr leben möchten.

Das Gesetz wird von vielen Seiten kritisiert: Es sei gefährlich und könne missbraucht werden, sagen die einen. Es geht um Selbstbestimmung, auch beim Sterben, sagt die Gegenseite. Die meisten sind sich einig: Das Gesetz soll verändert werden.

 

Nikola Göttling hat eine Sterbe-Verfügung, weil Schmerzen ihre täglichen Begleiter sind: „An guten Tagen sind sie leichter aushaltbar.“ Sind sie an der Wirbelsäule, sagt Göttling, werde es ganz schlimm: „Die Schmerzen scheinen sich zu bewegen. Oft wirkt es so, als würden sich in meinem Körper Würmer, Schlangen, Nadeln, Drähte oder sonst was bewegen.“ 

Im Gesetz steht, dass Erwachsene in Österreich selbst entscheiden dürfen, ob sie sterben wollen, wenn sie sehr krank sind. Darin steht auch, dass sie selbst entscheiden können müssen und nicht gedrängt werden dürfen. Um sicherzugehen, dass sie niemand drängt, müssen Menschen, die sterben möchten, Gespräche mit zwei verschiedenen Ärzt*innen führen. Wenn sie drei Monate nach dem zweiten Gespräch noch immer sterben wollen, können sie eine Sterbe-Verfügung errichten lassen. 

Danach können sie das Medikament in einer Apotheke, die es ausgibt, abholen. Das Medikament gibt es in zwei Varianten. Einmal ist es fertig gemischt. Dann muss man es innerhalb von einem Monat nehmen. Sonst wirkt es nicht. In der anderen Variante bekommt man das Medikament in Pulverform. Dann ist das Sterbemittel zehn Jahre haltbar.

Klage vor dem höchsten Gericht

 

Dass es das Gesetz überhaupt gibt, dafür hat sich unter anderem der Wiener Anwalt Wolfram Proksch eingesetzt. Er hat mit einer Klage vor dem obersten zuständigen Gericht dafür gesorgt, dass das Gesetz möglich wurde. Das Gericht heißt Verfassungs-Gericht.

Dabei gab es aber auch Widerstand. „Rechts-gerichtete Kreise der katholischen Kirche haben mich als Unterstützer der Tötungs-Industrie bezeichnet“, sagt Proksch.

 

Der Anwalt brachte seine Klage mit Hilfe von Göttling trotzdem ein. Sie ging als Betroffene mit ihm 2020 zum Verfassungs-Gericht. Sie lernten sich über die Österreichische Gesellschaft für ein Humanes Lebensende kennen. Der Verein kämpft für Sterbehilfe in Österreich nach Schweizer Vorbild. Dort ist das seit über 40 Jahren erlaubt.

Auch in Deutschland entschied das Verfassungs-Gericht 2020, dass ein Gesetz die Sterbehilfe neu regeln muss. Seitdem streitet die deutsche Politik darüber. In manchen Fällen findet mit Hilfe von engagierten Ärzt*innen dennoch Sterbehilfe statt. Ein Gesetz gibt es dort aber bis heute nicht.

 

Weil Sterbehilfe in Österreich möglich ist, kann Göttling das Medikament seit September 2022 in ihrer Wohnung verwahren. Wo genau, verrät sie nicht. Nur soviel: es ist kindersicher verstaut. Noch würden sie ihre zwei erwachsenen Kinder am Leben halten, erzählt sie. Die seien noch nicht bereit, mit ihrem Todeswunsch umzugehen.

 

Trotzdem möchte die unheilbar Kranke für sich eine Grenze ziehen: Geht ihr körperlicher Verfall so weiter, dann möchte sie auf ihr Umfeld keine Rücksicht mehr nehmen und gehen. Die 54-Jährige sagt, sie habe keine Angst vor dem Sterben. Sie habe im Leben alles getan, was sie wollte.

Fehlende Aufklärung und zu wenig Personal

 

Doch nicht alle Österreicherinnen haben wie Göttling die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Zum Beispiel jene Menschen mit Behinderungen, die eine Erwachsenen-Vertretung haben. Das heißt, dass ein anderer Mensch auch im Alltag wichtige Entscheidungen für sie trifft. Für sie ist Sterbehilfe nicht erlaubt. 

 

Ein weiterer Kritikpunkt: Die Sterbe-Verfügung ist teuer. Die zwei ärztlichen Gespräche und Bürokratie kosten Geld. Dass die Patient*innen-Anwaltschaft kostenlos Sterbe-Verfügungen macht, wissen die wenigsten, auch aufgrund eines Werbeverbots. Laut diesem Werbeverbot darf niemand aktiv Sterbehilfe anbieten. Und auch wenn man es wüsste: Die Patient*innen-Anwaltschaft hatte bis Anfang 2024 zu wenig Personal und zu wenig Geld. Deshalb habe sie die, eigentlich vorgesehene, kostenlose Hilfe für die Sterbe-Verfügung gar nicht anbieten können, sagt Michaela Wlattnig. Sie ist Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft der Patient*innen- und Pflege-Anwaltschaften.

 

Bis Anfang Juli 2024 gab es in Wien immer noch zu wenig Personal für die kostenlose Erstellung von Sterbe-Verfügungen. Gerade für Menschen mit Behinderungen wäre das aber wichtig. Laut einem UN-Bericht aus 2023 sind Menschen mit Behinderungen doppelt so oft von Armut betroffen wie Menschen ohne Behinderungen. 

 

andererseits hat bei drei Organisationen, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen, nachgefragt, wie sie das Sterbe-Verfügungs-Gesetz einschätzen.

Der Behinderten-Rat antwortet, er stehe der Sterbehilfe generell kritisch gegenüber. Er befürchtet, dass Menschen mit Behinderungen in die Sterbehilfe getrieben würden, um anderen nicht zur Last zu fallen. Und fordert zuerst die Lebens-Bedingungen zu verbessern, zum Beispiel durch persönliche Assistenz.

Auch der Behinderten-Verband KOBV findet es gut, dass Menschen mit Erwachsenen-Vertretung von der Sterbehilfe ausgeschlossen sind.

Der Verein BIZEPS verweist hingegen auf die Stellungnahme des Menschenrechts-Beirats. Der fordert, dass auch Menschen in Pflegeheimen Zugang zu Informationen über Sterbehilfe bekommen und Sterbehilfe in Heimen nie verboten sein soll. Menschen mit Behinderungen, die entscheidungsfähig sind, sollen denselben Zugang zur Sterbehilfe haben wie Menschen ohne Behinderungen.

 

In einer Sache sind sich die drei Organisationen einig: Sie fordern, dass die medizinische Betreuung von schwer kranken Menschen verbessert wird.

Sterbe-Verfügungen laufen ab

 

Der Weg zum selbstbestimmten Sterben ist lang. Bei Nikola Göttling dauerte es neun Monate, bis sie ihre Sterbe-Verfügung hatte. Wer diesen Weg gegangen ist, hat danach nur eine begrenzte Zeit, um die endgültige Entscheidung zu treffen: die Sterbeverfügung läuft nach einem Jahr ab. Wer bis dahin nicht freiwillig gestorben ist, muss den Prozess wieder von vorne beginnen.

 

So geht es auch Göttling. Ihre Sterbe-Verfügung ist im Juli 2024 schon seit Monaten abgelaufen. Erneuern werde sie diese aber nicht, sagt sie. Sie müsste neben dem psychischen Stress auch noch einmal viel Geld bezahlen. Wenn Göttling das Medikament nach Ablauf ihrer Sterbe-Verfügung nimmt, macht sie eigentlich eine nicht erlaubte Selbsttötung. Daran hindern wird sie aber niemand, glaubt sie: „Kein Mensch kümmert sich darum, ob ich das Medikament zu Hause habe. Wer soll mich davon abhalten, es in drei Jahren zu nehmen?“

 

Diesen Mangel an Kontrolle kritisieren Expert*innen wie Susanne Kummer. Sie ist Ethikerin, sie beschäftigt sich damit, was richtig und falsch ist und wie Menschen gut handeln können. Sie fordert strengere Regeln bei der Verwahrung des Medikaments. „Es ist natürlich eine Spannung, wenn man bedenkt, mit wie vielen Schlüsseln und Sicherheits-Maßnahmen in einem Krankenhaus hochgiftige Mittel versperrt sein müssen. Und hier jetzt von Gesetzes wegen nicht. Das sehe ich als großes Versäumnis.“

 

In diesem Punkt ist sich Anwalt Proksch mit den Kritiker*innen des Gesetzes einig. Er meint zwar, dass es zu viele Hürden beim Erstellen der Sterbe-Verfügung gebe. Und die Regelungen danach wiederum zu locker seien: „Wenn jemand die Hürden überwunden hat, dann ist plötzlich alles frei. Und das lädt ja schon fast dazu ein, dass es zu Unfällen kommt.“

Anpassungen vielleicht noch in diesem Sommer

 

Deshalb setzen sich Proksch und Göttling weiter für Nachbesserungen des Sterbe-Verfügungs-Gesetzes ein. Im Juni 2023 zogen sie wieder vor das Verfassungs-Gericht. Sie forderten das Ende des Werbeverbots und die Legalisierung aktiver Sterbehilfe. Mit einem Urteil rechnet der Anwalt noch in diesem Sommer.

 

Für Nikola Göttling bedeutet die Möglichkeit, mit Medikament zu sterben, auch, dass sie ihren Abschied planen und gestalten kann. Bevor sie geht, möchte sie ein Abschiedsessen für ihre Familie und Freundinnen veranstalten. Auch ihr Ehemann soll dann dabei sein. Sie sind zwar noch verheiratet, haben sich aber schon vor vielen Jahren getrennt. Göttling wollte nicht, dass er mit ihr leidet. Sie verstehen sich aber noch immer gut. Er hilft ihr auch, so gut er kann. Wann ihre Abschiedsfeier sein soll, das weiß sie noch nicht.

Was Göttling, die lebensfrohe Frau mit dem Sterbewunsch, aber genau weiß: was ihre Kinder, der Ehemann und die Freundinnen nach ihrem ewigen Einschlafen tun sollen: „Danach sollen alle kiffen und saufen, was sie wollen.“ 

Text und Recherche: Lisa Steiner und Phillip Strobl 

Illustration: Lisa-Marie Lehner 

Redaktion: Lisa Kreutzer, Clara Porák

Wenn Du in einer Krise bist, gibt es Menschen, mit denen Du sprechen kannst.

  • Unter suizid-praevention.gv.at findest Du Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken.
  • Gesprächs- und Verhaltenstipps insbesondere für Kinder und Jugendliche bietet bittelebe.at

Du kannst auch bei den folgenden Nummern anrufen:

  • Telefonseelsorge (0–24 Uhr, kostenlos): 142

  • Männernotruf (0–24 Uhr, kostenlos): 0800 246 247

  • Frauenhelpline (0–24 Uhr, kostenlos): 0800 222 555

  • Rat auf Draht (0–24 Uhr, für Kinder und Jugendliche, kostenlos): 147

  • Kindernotruf (0–24 Uhr, kostenlos): 0800 567 567

  • Kriseninterventionszentrum (Mo–Fr 10–17 Uhr): 01 / 406 95 95

  • Amike-Telefon der Diakonie für Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund in Farsi, Arabisch, Deutsch, Englisch und Russisch (beschränkte Telefonzeiten)
  • Spezielle Nummern und Anlaufstellen in den Bundesländern findest Du hier.

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