Rund 300.000 Menschen in Österreich sind sehbehindert oder blind. In was für einer Welt leben sie? Ein Selbstversuch.

Von Sebastian Gruber und Sarah Kleiner

Zum Glück können Sebastian und ich gut sehen. Also er, seit er sich vor zwei Jahren die Augen lasern hat lassen und ich, wenn ich eine Sehhilfe mit zirka vier Dioptrien trage. Das ist aber noch immer harmlos im Vergleich zu den hunderttausenden Menschen in Österreich, die wirklich sehbehindert oder vollkommen blind sind. Wie selbstverständlich wir unser Augenlicht nehmen und wie es sich anfühlt, überhaupt nichts zu sehen, lernen wir bei einem Besuch bei “Dialog im Dunkeln” in den Kellerräumen der Freyung im ersten Bezirk.

Eine Stunde dauert die Tour. Wir sind eine Gruppe von acht Leuten, geleitet werden wir von einer Frau, die selbst eine Sehbehinderung hat. Vor den komplett dunklen Räumen haben wir alle Blindenstöcke bekommen und uns wurde erklärt, was wir machen müssen. Während wir durch die Räume gingen, fuhren wir immer mit einer Hand an der Wand entlang, wir konnten nur kleine Schritte machen und mussten mit dem Stock vor uns am Boden hin- und herstreichen. „Dialog im Dunkeln“ wurde von der „Dialogue Social Enterprise“ entwickelt, die Empathie und Offenheit für andere Lebensrealitäten erzeugen will. Das schafft sie. 

Kaum sind die letzten Lichtstrahlen erloschen und wir in vollkommener Dunkelheit, macht sich ein beklemmendes Gefühl breit, ähnlich einer Platzangst. Man will raus aus dem Schwarz. Dann sind wir alle langsam durch die Räume gegangen, mit der Hand immer an der Wand. Die Gruppe tastet sich voran, es geht bergauf und bergab, dann gehen wir in ein unterirdisches Geschäft, haben aber keine Ahnung, in was für eines. Nur durch ertasten der Gegenstände an den Wänden können wir einen Sportladen ausmachen, mit Schwimmflossen und Surfbrettern. Wir kamen auch in ein Haus, gingen durch viele Türen, ein Boot und eine Bar waren nachgestellt. Dort konnte man etwas trinken. Es war ein komisches Gefühl, dort im Dunklen etwas zu trinken.

Schnell sind wir auf Teamwork mit den anderen TeilnehmerInnen angewiesen. „Achtung, gleich geht’s bergab“ oder „Stopp – nicht weitergehen, vorne ist jemand stehen geblieben“. Ohne die Gruppe wäre das Ganze um einiges schwieriger. „Wenn ich da keinen habe, der mir hilft, wär‘ das unmöglich“, sagt Sebastian später. „Diese blinde Welt war für mich ein arges Erlebnis und ein wenig beängstigend und gruselig.“ Nach einer Stunde sind wir froh, als wir die Lichtstrahlen sehen, die den Ausgang anzeigen. Wieder am Tageslicht blendet uns die wolkenverdeckte Sonne und wir sind erleichtert.

Ins echte Leben

„Es ist eigentlich eine reine Übungssache“, sagt Marion Putzer-Schimack. Wir sitzen einige Wochen später im Besprechungsraum des “Blinden- und Sehbehindertenverbandes Wien, Niederösterreich, Burgenland” (BSVWNB). Die Interessenvertretung ist eine wichtige Anlaufstelle für Menschen, die blind oder sehbehindert geboren wurden oder es durch eine Erkrankung werden. „Ich habe keine Schwierigkeiten, von mir zu Hause in Niederösterreich mit dem Zug nach Wien zu fahren und hier die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. Schwierig ist, wenn man woanders hin muss, wo man noch nie war“, sagt sie. So ungeschickt wie Sebastian und ich uns im Dunkeln angestellt haben, ist sie nicht.

Aufgrund einer Netzhauterkrankung, die sich im Laufe der Zeit verschlechtert, hat Marion Putzer-Schimack seit ihrer Kindheit ein eingeschränktes Gesichtsfeld. „Ich sehe unterschiedliche Lichtverhältnisse, wenn gutes Licht ist auch Kontraste, aber ich sehe keine Details“, sagt sie. „Ich bin auch vom Gesetz her blind.“ Marion Putzer-Schimack ist jetzt Anfang 40 und macht derzeit eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. Einige Stunden in der Woche arbeitet sie im Louis-Braille Haus, in dem der Verband angesiedelt ist. Es ist nach dem französischen Erfinder der Blindenschrift benannt. Im Haus gibt es ein Massageinstitut, bei dem Sehbehinderte arbeiten, psychosoziale Betreuung, eine Sporthalle, einen Shop mit Gadgets für den Alltag – in dem Haus im 14. Gemeindebezirk gibt es einfach gesagt Raum zum Vernetzen, zum Lernen und Zusammensein. 

Insgesamt sind 3,4 Prozent der österreichischen Bevölkerung sehbehindert oder blind. Von ersterem spricht man, wenn die Sehschärfe oder das Gesichtsfeld stark eingeschränkt sind. Blindsein heißt, eine maximale Einschränkung zu haben, das reicht bis zur fehlenden Wahrnehmung jeglichen Lichtscheins. Sebastian und ich lernen, dass es sehr selten ist, dass Menschen wirklich gar kein Licht wahrnehmen können, so wie das bei „Dialog im Dunkeln“ suggeriert wird. Die häufigsten Ursachen für eine Sehbehinderung sind Augenerkrankungen wie die sogenannte Altersbedingte Makula-Degeneration (AMD), das Glaukom – auch bekannt als Grüner Star – und die diabetische Retinopathie. Diese Krankheiten treten meist ab dem 50. Lebensjahr auf und werden in Zukunft noch häufiger werden. 

“Man hört immer wieder von Leuten, ‘Ich hab’ einmal einen Blinden angesprochen und der war so unfreundlich, dass ich das nicht mehr mache’”, antwortet Marion Putzer-Schimack auf die Frage, wie man Sehbehinderte am besten im öffentlichen Raum unterstützen könne. “Ich denke mir dann, es muss in Wien ein, zwei ganz böse Blinde geben, die alle Leute verprellen”, scherzt sie. Tatsächlich müsse man sich stark konzentrieren, wenn man ohne oder mit kaum Sehvermögen in der Stadt unterwegs ist, um die Orientierung nicht zu verlieren und nichts zu überhören. Prinzipiell, betont sie, sei es immer eine gute Idee, jemanden anzusprechen, wenn man sieht, die Person tut sich schwer. “Und das macht man am besten, indem man fragt, ‘Brauchen Sie Hilfe?’“ 

Abgesehen vom Bewegen im öffentlichen Raum, das mit taktilen Leitsystemen am Boden und akustischen Ampelsignalen erleichtert wird, ist auch die digitale Barrierefreiheit ein immer größer werdendes Thema für Sehbehinderte. Hier ist vor allem die Sprachausgabe eines der wichtigsten Werkzeuge. Laut dem Web-Zugänglichkeits-Gesetz müssten alle öffentlichen Webseiten bereits mit dieser Funktion ausgestattet sein. “Ich bin nicht so oft auf öffentlichen Webseiten”, sagt Marion Putzer-Schimack. “Ich weiß nur, dass ich momentan Probleme mit diesen Test-Webseiten habe, wo man das Ergebnis abrufen kann.” Da könnte man bei der Barrierefreiheit noch nachbessern, meint sie. Für den Obmann des BSVWNB Kurt Prall ist wesentlich, dass die Barrierefreiheit im Web unablässig vorangetrieben wird, “denn schon Stillstand bedeutet in diesem Umfeld wieder einen Rückschritt.”

Nach dem Gespräch mit Frau Putzer-Schimack, bei dem wir auch erfahren, dass sie verheiratet ist, drei Hunde hat, auf Urlaub fährt und Gitarre spielt, gibt uns Pressesprecher Martin Tree noch eine Führung durch das Louis-Braille Haus. Im Shop im Erdgeschoss des Gebäudes gibt es Mensch-ärgere-dich-nicht für Blinde, sprechende Uhren, Spielbälle mit Klingeln drin, damit man sie kommen hört, Einschenkhilfen und noch viele andere Gegenstände, die ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, auch wenn man nicht oder wenig sieht.

„Für die meisten Menschen ist gutes Sehen selbstverständlich – zumindest solange, bis die Sehkraft nachlässt, eine Erkrankung der Augen diagnostiziert wird oder eine Verletzung eintritt”, schreibt Obmann Kurt Prall uns nach unserem Besuch im Blindenverband per E-mail. Bei beginnenden Augenschädigungen würden Symptome oftmals nicht beachtet oder wahrgenommen werden, bis es zu spät sei. “Je früher eine Augenerkrankung festgestellt wird, umso eher kann deren Verlauf unter Umständen gemildert oder im Idealfall sogar gestoppt werden. Daher ist es von besonderer Wichtigkeit, regelmäßig fachärztliche Augenuntersuchungen durchführen zu lassen.“

Sebastian und ich haben durch “Dialog im Dunkeln” und den Besuch im Louis-Braille Haus jedenfalls gelernt, dass unser Sehvermögen alles andere als selbstverständlich ist. Und dass zwar vieles im Leben anders wird, wenn man nichts sehen kann, aber nichts unmöglich.

Wer sich genauer darüber informieren möchte, wie man am besten eine Unterstützung für Blinde und Sehbehinderte im Alltag sein kann, der findet in diesem Folder Antworten: https://www.blindenverband-wnb.at/fileadmin/user_upload/Blindenverband/Downloads/4_-_Helfen_aber_wie.pdf