Mut-Ausbruch

Yuria Knoll schneidet sich aus Wut die Haare ab
Die Illustration zeigt eine Frau, die sich im Spiegel anschaut. Sie steht in einem Badezimmer und hält in der Hand eine Schere. Sie hat braune Haare. Im Spiegelbild sieht sie sich ohne Haare.

Geschrieben von

Yuria Knoll entscheidet sich plötzlich,
ihre langen Haare abzurasieren.

Später merkt sie:

Sie war so mutig,
weil sie wütend war.
Sie schreibt hier,
warum sie so wütend war.

Dieser Text spielt in Österreich.

Es war an Silvester im ersten Corona-Jahr.

Ich war schon seit vielen Monaten immer alleine.

Ich wollte mich nicht mit Corona anstecken,

weil die Krankheit für mich gefährlich sein könnte.

Eine Silvester-Party ging nur über das Internet, mit Zoom.

Meine Stimmung war komplett im Arsch.

Plötzlich sah ich meinen zerzausten Locken-Kopf im Spiegel.

Da hatte ich nur noch einen Gedanken:

Die Haare müssen ab.

Ich kann sie nicht mehr sehen!

Als ich im Bad war,

mit dem Rasierer in der Hand,

kamen noch andere Gedanken dazu.

Ich überlegte, ob ich meine Haare

einfach waschen oder bürsten sollte.

Damit sie besser aussehen.

Ich überlegte 15 Minuten hin und her.

Und ich diskutierte im Gruppen-Chat.

Dann schnitt ich mir mit einer riesen- großen Schere

die erste Strähne ab.

Ich machte einen tiefen Atem-Zug

und schaute verzweifelt in den Spiegel.

Dann schnitt ich die zweite Strähne ab.

Am Ende rasierte ich mir eine Glatze.

Richtig genervt und wütend

Am Anfang dachte ich:

Ich habe das gemacht,

weil mir langweilig war.

Aber eigentlich war mir nicht langweilig.

Ich war genervt.

So richtig genervt, tief im Innern.

Und vielleicht auch einsam,

weil ich wegen Corona so lange allein sein musste.

Aber ich war auch wütend.

Ich war sauer.

Sauer auf Corona.

Sauer auf Leute, die mir sagten:

„Keine Panik,

Corona ist nur für Menschen mit Vor-Erkrankung schlimm.“

Ich bin eine behinderte Frau und lebe mit Rollstuhl.

Ganz ehrlich, ich bin eine Vor-Erkrankung auf Rädern.

Ich war auch sauer auf die Regierung.

Weil die mächtigen Menschen in der Regierung so rücksichtslos

mit der Gesundheit der Menschen im Land umgegangen sind.

Ganz besonders wütend war ich auf alle,

die zu Silvester Party gemacht haben.

Ich wusste genau:

Ich war im Bad allein mit meinen Haaren und meiner Wut.

Und ganz in meiner Nähe trafen sich viele Menschen

ohne Behinderungen zum Feiern.

Wie Frauen aussehen sollen

Später habe ich verstanden:

Ich war auch wütend darüber,

dass in unserer Gesellschaft

Frauen so schlecht behandelt werden.

Frauen werden unterdrückt.

Und viele Freundinnen haben

mir in den Wochen vor Silvester erzählt,

dass sie schon einmal sexualisierte Gewalt erlebt haben.

Sexualisierte Gewalt heißt zum Beispiel:

Männer sagen etwas über Sex und über den Körper einer Frau,

was die Frau unangenehm findet.

Oder eine Frau wird angefasst,

obwohl sie das nicht will.

Oder sie wird zum Sex gezwungen.

Zum Sex zwingen nennt man Vergewaltigung.

Ich war fassungslos darüber,

dass viele meiner Freundinnen solche Dinge erlebt haben.

Es gibt in der Gesellschaft auch viele Regeln dafür,

wie Frauen aussehen und sein sollen.

Frauen sollen immer nett und freundlich sein.

Sie sollen lächeln und schön sein.

Mit dem Wort schön ist meistens gemeint:

Was Männer schön finden.

Zum Beispiel lange Haare.

Viele Jahre hatte ich schulter-langes Haar.

Dicke schwarze Locken,

die ich kaum kämmen konnte.

Als Jugendliche habe ich meine Haare oft glatt gemacht,

weil sich die beliebten Mädchen

über meine wilden Locken lustig machten.

Sie behaupteten,

ich würde meine Haare nicht pflegen.

Aber das stimmte nicht.

Alle diese Dinge haben mich wütend gemacht.

Ich glaube:

Oft brauchen

Menschen zuerst Wut,

um dann etwas Mutiges tun zu können.

 

Erst kommt ein Wut-Ausbruch.

Dann kommt ein Mut-Ausbruch.

Wir sollten viel öfter wütend sein.

Wut macht uns stark und mutig.

Geschrieben Von

Yuria Knoll 

Gezeichnet von

Clara Sinnitsch

In Einfacher Sprache von

Constanze Busch

Redaktion

Lisa Kreutzer