Ein kleiner OP-Schnitt an Friederikes Bauch war zuerst 3 Zentimeter groß. Dann wurde er 18 Zentimeter groß. Das war nicht normal. Jetzt hält ein Netz in ihrem Bauch die Organe fest. Es hilft beim Heilen, sodass Friederike damit normal weiterleben kann. Fast genauso, sagt sie, wie die Menschen um sie herum ihr Leben zusammenhalten.
Friederike lebt mit Behinderungen. Sie hat zwei Kinder. Sie sind Teenager. Auch ihre Kinder und ihr Mann Leben mit Behinderungen. Die Familien-Mitglieder haben mehreren Krankheiten: das Ehlers-Danlos-Syndrom, einen seltenen Gendefekt. Zu hohem Druck im Gehirn. Albinismus, eine Störung der Haut- und Augenfarbe. Und MS, einer Krankheit, bei der die Nerven angegriffen werden. Diese Krankheiten machen blind, schwächen das Binde-Gewebe und schädigen die Nerven.
Die Familie zählt damit zu den rund 7,9 Millionen schwerbehinderten Menschen in Deutschland. „Es ist wie ein Haus mit schlechtem Mörtel. Irgendwann fällt alles auseinander“, sagt Friederike über ihren Körper. In den vergangenen Jahren kam es auch bei ihren Kindern immer wieder vor, dass die Seh-Nerven gequetscht wurden. Die Netzhaut am Auge wurde beschädigt. Jetzt sehen die Kinder noch schlechter als Friederike. Friederike hat ihre Sehkraft durch Training wieder auf 50 Prozent verbessert.
Auch Gelenke verrutschen bei Friederikes Kindern oft, zum Beispiel die Handgelenke. Einmal eine Tür öffnen reicht, und das Gelenk springt heraus. Dann muss es wieder eingerenkt werden, wenn das überhaupt möglich ist. Für solche Fälle hat die Familie eine große Schublade. Darin sind Schienen für Füße, Hände und Beine.
„Wir könnten ein Handbuch schreiben“, sagt Friederike. „Darin stünde: Wie bereitet man Kinder auf Krankenhaus-Besuche vor? Wie heilt man danach? Und wie findet man schöne Momente in all dem Schweren?“
Funktioniert sie nicht, bricht alles zusammen
Die Familie hat beschlossen, die Kinder bald nur noch von zu Hause zu unterrichten. Das Geld für Lehrer*innen kommt aus dem Pflege-Geld. In Deutschland ist das eine seltene Ausnahme. Es gibt Schulpflicht, keine Bildungspflicht. Nur mit Genehmigung und ärztlichem Gutachten dürfen Kinder zu Hause unterrichtet werden. Friederikes Kinder haben die Erlaubnis wegen ihrer gesundheitlichen Belastung. Friederike organisiert alles. Sie macht das neben ihrem Beruf. Sie sorgt dafür, dass immer genug Pflege-Kräfte da sind. Auch die Kranken-Fahrten plant sie. Jeden Tag braucht sie dafür mindestens zwei Stunden, manchmal auch den ganzen Vormittag.
Viele ihrer Telefonate gehen darum, ob ihr Sohn das richtige Medikament bekommt. Oder ob es ihrer Tochter in der Schule zu laut war, da sonst ihr Hirndruck steigt und das zu einer Verschlechterung ihrer Augen führen kann. Laut Aktion Mensch haben über 60 Prozent der Menschen mit Behinderung in Deutschland Probleme beim Zugang zur Gesundheits-Versorgung. Das ist gegen die UN-Behinderten-Rechts-Konvention, die es seit 2009 gibt.

Der Rettungs-Hubschrauber ist auch kein schneller Weg ins Krankenhaus, denn der fliegt nur bis Kiel, wo die Familie wohnt. Gesetzlich ist es so geregelt, dass sie nur kurze Strecken ins nächste Krankenhaus fliegen dürfen. Früher fuhren sie deshalb oft selbst ins Krankenhaus nach Berlin. Die Fahrt dauerte mehrere Stunden. Über 350 Kilometer und der einzige Weg zu Ärzt*innen, die sich mit ihren Behinderungen auskannten.
„Manchmal bin ich aber die leichtsinnige Mutter“, sagt Friederike. „Ich habe meine Kinder mal auf ein Pferd gesetzt. Drei Wochen später war ich die ängstliche Mutter, weil ich Haus-Unterricht verlangt habe. Ich will einfach nur, dass meine Kinder gut leben können.“
Erst nach der Geburt der Kinder erfuhr Friederike, dass sie selbst das Ehlers-Danlos-Syndrom hat. Lange wusste das niemand. Ärzte sagten immer wieder Behandlungen ab, weil sie ihre Symptome nicht verstanden. Friederike hätte ihren Kindern die Krankheiten gerne erspart. Sie fühlt sich oft schuldig. Aber wenn diese Gefühle zu stark werden, sagen ihre Kinder liebevolle Dinge zu ihr. Sie sagen, wie froh sie sind, dass sie ihre Mutter ist.
Nach der Diagnose dauerte es viele Jahre, bis die Familie gute Hilfe hatte. Sie fanden Ärz*innen, Pflegekräfte und eine Nachbarin, die sie nicht ablehnte, sondern half, obwohl es schwierig war. Friederike ist studierte Psycho-Therapeutin. Sie spürt mittlerweile gut, wem sie vertrauen kann. Manchmal sagt sie auch selbst Pfleger*innen ab. „Wenn es nicht passt, ist es für alle nur Zeit-Verschwendung.“
Über die vergangenen Jahre hinweg hat sich Friederike eine eigene Praxis aufgebaut mit zwei Standorten und zehn Mitarbeitenden. „Ich liebe meinen Beruf“, sagt sie. „Aber ich kann keine Patientin mit schlimmen Erlebnissen betreuen, wenn ich am nächsten Tag vielleicht in der Notaufnahme bin.“ Sie möchte wieder mehr arbeiten, wenn es ihrer Familie besser geht. „Ich warte sehr auf diesen Moment.“ Ihr Beruf hält die Familie zusammen. Sie hat gelernt, mit Schmerzen umzugehen. „Ich bin die Gallionsfigur“, sagt sie. „Wenn ich nicht funktioniere, bricht alles zusammen.“
Friederike will, dass sich endlich etwas ändert. „Was passiert, wenn das Gesundheit-System kaputtgespart wird?“ Der Krankenhaus-Report von 2024 zeigt, dass in Deutschland Tausende schwerkranke Menschen in Kliniken nicht so behandelt werden können, wie es notwendig ist, weil die Ausstattung schlecht ist. Der Report ist ein Bericht über den Zustand von Krankenhäusern in Deutschland.
Friederike weiß, was es bedeutet, mit einem schwer kranken Kind zwölf Stunden in der Not-Aufnahme zu sitzen und keine Hilfe zu bekommen. Sie hofft, dass die Politik die Situation für Menschen mit Behinderungen in Deutschland und das Gesundheits-System verbessert. Darum wählt sie nur noch eine Partei, die sich für Inklusion stark macht. Die Alternative für Deutschland (AfD) ist die einzige Partei, die alle inklusiven Bemühungen strikt ablehnt. Auf ihrem Auto und vor dem Haus kleben deshalb viele Sticker mit: No AfD!
Solange versucht sie, das Beste aus der Situation herauszuholen. Jeden Tag macht die Familie etwas Schönes. Urlaub in Rostock, in der Nähe vom Krankenhaus, kreative Projekte oder Ausflüge. „Wir planen nicht für morgen. Wenn heute die Sonne scheint, gehen wir heute raus.“, sagt Friederike. „Wir sitzen auf gepackten Koffern für den Notfall.“ Rausgehen heißt für die Familie zum Strand oder zum Leuchtturm gehen, manchmal auch mit dem Stand-up-Paddle-Board auf dem Wasser stehen. Sie suchen die Abwechslung in der Monotonie, in der Wiederholung. Am Abend reden sie über den Tag.

Dann folgt immer das gleiche Ritual: Melatonin nehmen, kuscheln, die schönen Dinge des Tages aufzählen. Dann betet Friederike. Es ist seit fast 15 Jahren das gleiche Gebet. Sie spricht es jeden Abend, obwohl sie nicht an Gott glaubt:
„Müde bin ich, geh zur Ruh,
schließe beide Äuglein zu.
Lieber Gott und liebe Engelchen,
danke für diesen schönen Tag.
Bitte passt gut auf uns auf. Amen.“
Danach singt sie zwei Lieder, immer dieselben, immer in derselben Reihenfolge. Dann stellt sie ihrer Tochter drei Fragen. Danach ihrem Sohn.
Der Familie ist wichtig, nicht nur an sich selbst zu denken. Sie spenden oft. Egal ob Geld, Kleidung und Geschenke. „Wenn es geht, gehen wir auf Demos gegen rechte Gruppen oder für den Klimaschutz“, sagt Friederike. „Es gibt viele Themen, über die niemand sprechen will. Aber wir zeigen, dass man es schaffen kann. Es gibt Denkweisen, die helfen.“
Einmal fragte ihre Therapeutin sie: „Wie schaffen Sie das alles?“ Friederike antwortete: „Ich bin viel zu bockig zum Aufgeben.“
Geschrieben Von
Chiara Joos
und Von
Philipp Horak
Redaktion
Clara Porak, Lisa Kreutzer
Fotos von
Philipp Horak