Hier kommst du zum ersten Teil der Serie über Hör-Behinderung
Im letzten Text ging es darum, wie wir lernen können, mit unserer Hör-Behinderung umzugehen – auch wenn wir schlechte Erfahrungen gemacht oder Vorurteile verinnerlicht haben.
In diesem Teil möchte ich zeigen, wie die Welt für viele schwerhörige und gehörlose Menschen aussieht. Es geht darum, was wir an unserer Wahrnehmung besonders finden. Wir sprechen über Sichtbarkeit, über Stolz und darüber, wie wir alle gemeinsam die Verbindung zwischen hörender und nicht-hörender Welt stärken können.
Wenn ich die Hörgeräte trage, kann ich den Regen gegen die Scheibe trommeln hören. Wenn ich sie ablege, beobachte ich lautlose Tropfen. Sie ziehen Linien an der Glasscheibe. Diesen Anblick mag ich auch heute noch sehr gerne.
Meine Hörgeräte geben mir Sicherheit, aber auch Kontrolle. Ich kann Gesprächen folgen, nachfragen – aber was bleibt von mir, wenn das wegfällt? Menschen akustisch nicht zu verstehen, war für mich lange Zeit meine größte Angst, dabei kann es wunderbar befreiend sein. Nach und nach lernte ich die schönen Seiten der stillen Welt zu schätzen.
Lea Borkenhagen ist schwerhörig und beschreibt das so: „Wenn ein Organ nicht richtig funktioniert, dann lernt man ganz viel, über andere Kanäle wahrzunehmen. Und das gibt mir einen individuellen Blick auf die Welt.“
Viele Menschen, die in der Umfrage mitgemacht haben, erzählen, dass sie Menschen bewusster lesen können, indem sie auf körper-sprachliche Signale achten oder Stimmungen spüren. Berührungen spielen eine große Rolle. Manche von euch haben beschrieben, dass sie besonders viel über den Körper oder die Haut wahrnehmen: etwa Vibrationen, Druck oder Temperatur-Veränderungen.
Mario Hahn erzählt, dass seine Wahrnehmung ihm geholfen hat, empathischer, achtsamer und kreativer zu werden: „Ich nehme Menschen auf eine ganz andere, tiefere Weise wahr.”
Ich finde das wunderschön. Seitdem ich mehr auf mich achte, bin ich achtsamer mit anderen geworden. Oder wie es eine Person aus der Umfrage beschreibt: „Ich finde es schön, dass ich spüre, wenn jemand meine Hilfe braucht.“
Lea Borkenhagen erzählt, dass sie eine starke Beobachtungs-Gabe hat: “Mit der persönlichen Erfahrung kann ich auch anderen helfen, wenn bei ihnen Hör- Probleme vorliegen. Es erschreckt mich, wie viele die Zeichen nicht erkennen.“
Einige von euch haben geschildert, dass Hören mit Hör-Geräten und / oder Cochlea-Implantate mit Selbst-Bestimmung zu tun hat.
Ein Cochlea-Implantat wird bei einer Operation eingesetzt und leitet Geräusche als elektrische Signale direkt an den Hörnerv weiter. Ein Cochlea-Implantat sieht von außen aus wie ein kleines Hörgerät mit einem runden Teil, das hinter dem Ohr auf dem Kopf sitzt. Dieser runde Teil wird mit einem Magneten auf der Haut gehalten.
Das Nutzen technischer Hilfsmittel kann bedeuten: Ich entscheide, wann ich am sozialen Leben teilhaben möchte. Ob ich die Vögel zwitschern höre oder nicht. Für viele von euch bedeutet das Lernen und Sprechen von Gebärden-Sprache auch Selbst-Bestimmung.
Das ist besonders, da die Anerkennung der Gebärden-Sprache ein langer und harter Kampf war.
In Österreich und Deutschland durften gehörlose Menschen lange Zeit die Gebärden-Sprache nicht in der Schule verwenden. Nach einem Treffen im Jahr 1880 (dem Mailänder Kongress) wurde beschlossen, dass gehörlose Kinder ausschließlich mit Lautsprache unterrichtet werden sollten – also sprechen mit dem Mund und Lippenlesen. Das nennt man Oralismus.
Die Gebärden-Sprache wurde aus dem Unterricht verbannt, und Kinder mussten unter Druck und mit Strafen das Sprechen lernen. Damals glaubte man fälschlicherweise, dass Gebärden-Sprache keine vollwertige Sprache sei. Einen wichtigen Beitrag zur späteren Anerkennung der Gebärden-Sprache leisteten Gehörlosen- und Behinderten-Organisationen sowie Forscher*innen. In Deutschland wurde die Gebärden-Sprache im Jahr 2002 und in Österreich im Jahr 2005 anerkannt. In beiden Ländern war das ein wichtiger Schritt für die Gleichstellung gehörloser Menschen– besonders, was ihre Sprache und Kultur betrifft.
Doch trotz vieler Fortschritte: Wir begegnen im Alltag weiterhin Barrieren. Sie reichen von fehlenden visuellen Inhalten im öffentlichen Raum, über das Absprechen technischer Hilfsmittel, das fehlen von Gebärden-Sprach-Dolmetscher*innen bis hin zu mangelnder Rücksichtnahme von Mitmenschen.
Es gibt Tage, an denen die Kraft fehlt, sich mitzuteilen, zu erklären oder zu rechtfertigen, warum man Unterstützung braucht. Barrierefreiheit entsteht nicht nur durch Technik oder Strukturen – sondern auch durch Haltung. Und das ist der Unterschied: Jede*r von uns kann einen Teil beitragen, um ein barrierefreies Miteinander zu verbessern.
Von euren schönsten Momenten aufgrund eurer Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit haben einige erzählt, dass ihr die Hilfs-Bereitschaft und Offenheit von Hörenden sehr schätzt. Für Sorina zählen dazu Momente der Rücksicht-Nahme: “Es reden nicht alle gleichzeitig, sondern eine*r nach dem anderen.” Aber auch wenn ihre technischen Hilfsmittel, wie ihr Mini-Mikrofon, von anderen Menschen akzeptiert werden.
Wir können im Alltag kleine Dinge verändern, um besser auf uns Acht zu geben. Zum Beispiel einen Satz nicht zu wiederholen, sondern anders zu formulieren. Darauf achten, dass das Gesicht beim Reden zugewandt ist. Zuzuhören, wenn Menschen ihre Bedürfnisse kommunizieren. Nachfragen, wenn man sich unsicher ist.
Viele von euch haben den Wunsch geäußert, Brücken zwischen der gehörlosen und der hörenden Welt zu verbessern.
Katrin Neudolt ist eine gehörlose professionelle Badminton-Spielerin. Sie findet: „Ich mag die Bezeichnung hörende und gehörlose Welt nicht. Wir leben in einer Welt und das zusammen!” Katrin hat eine sehr gute Beziehung zu vielen hörenden Menschen – vor allem zu Kolleg*innen im National-Team. Viele sind offen, von ihr zu lernen: wie gute Kommunikation gelingen kann – durch Einsatz von Körper-Sprache oder das Erlernen der Gebärden-Sprache. Davon haben auch künftige Generationen gehörloser Athlet*innen etwas.
Ihr Verständnis für unterschiedliche Perspektiven ermöglicht es ihr, Brücken zu bauen. Weil sie Gebärden-Sprache kann, wird sie inzwischen auch international vermehrt für Vorträge angefragt.
Mario Hahn sagt dazu: „Menschen können sich ändern. Und ich glaube daran, dass das auch zwischen der hörenden und nicht-hörenden Welt möglich ist.“
Je mehr ich mich mit Themen rund um Hör-Behinderungen beschäftige, desto besser verstehe ich, woher mein internalisierter Ableismus kam. Ableismus heißt, Menschen mit Behinderungen werden schlechter behandelt. Wenn das öfter passiert, kann die Person mit Behinderung denken: “Ich bin weniger wertvoll.” Das nennt man internalisiert. Die Person glaubt das selbst, auch wenn es gar nicht stimmt.
Mittlerweile denke ich nicht mehr darüber nach, ob ich mir die Haare zusammenbinde und meine Hörgeräte zu sehen sind. Das mag nicht nach viel wirken – aber es zeigt: Das bin ich, und das gehört zu mir.
Wenn sich ein Auto nähert, fühle ich Vibrationen in den Beinen. Wenn es einer Person nicht gut geht, merke ich das sehr schnell. Es macht mich glücklich, das Licht zu beobachten, wie es durch die Blätter scheint und Muster auf eine Wiese malt. Die eigene Empfindsamkeit zuzulassen und sich darin neu zu entdecken ist ein Gefühl, das ich jedem Menschen wünsche.
Meine letzte Frage für diese Recherche lautete: Was macht euch in eurer Hör-Behinderung stolz? Darauf sind so viele schöne Antworten gekommen. Da ich sie hier nicht alle teilen kann, gibt es eine Website, wo ihr sie nachlesen könnt.
“Gebärden-Sprache macht mir stolz und ILY Zeichen macht mir stolz,” schreibt eine Person. Abschließend finde ich Jo’s Formulierung sehr schön: „Es ist kein ‘vor Stolz platzen’, sondern die Abwesenheit von Scham.“
Der Regen trommelt gegen die Fensterscheibe. Tropfen ziehen feine Linien. Manche verlaufen gerade, andere kreuzen sich oder verschwinden. So unterschiedlich kann Wahrnehmung sein. Manches spürt man, bevor man es sieht. Manches versteht man erst, wenn man zuhört.
Und vielleicht ist das unser Geschenk: Wir spüren, sehen, hören und fühlen – auf unterschiedlichste Weise. Lasst uns einander zeigen, dass es mehr als einen Weg gibt, verbunden zu sein.
Geschrieben Von
Lisa-Marie Lehner
Bilder von
Lisa-Marie Lehner
Redaktion
Clara Porak, Lisa Kreutzer
Einfache Sprache
Nikolai Prodöhl
Lektorat
Claudia Burner